Freitag, 22. August 2025

5D-Kristallographie

 Enzyme in Aktion: Neue 5D-Kristallographie enthüllt Dynamik unter physiologischen Bedingungen

Einleitung. Die Funktion von Enzymen hängt entscheidend von ihrer Strukturdynamik bei Körpertemperatur ab. Die meisten kristallographischen Strukturen wurden allerdings bisher bei kryogenen Temperaturen bestimmt, um Strahlenschäden zu minimieren . Dies kann jedoch zu Artefakten führen und relevante Konformationen überdecken, wie frühere Studien gezeigt haben . Zeitaufgelöste Kristallographie (z.B. durch Mischverfahren oder XFEL-Pulse) versucht, Enzyme in Aktion zu beobachten, wurde aber üblicherweise bei Raumtemperatur durchgeführt, wodurch Zustände übersehen werden können, die nur bei höheren, physiologischen Temperaturen auftreten . Ein Forschungsteam um Schulz et al. hat nun eine 5D-Serien-Synchrotronkristallographie (5D-SSX) entwickelt, die zusätzlich zur Zeitauflösung auch einen weiten Temperaturbereich abdeckt .

Methodik der 5D-Kristallographie

Die Abbildung zeigt den neuartigen Experimentieraufbau: Eine temperatur- und feuchtigkeitsgesteuerte Umgebungskammer erlaubt es, Kristallproben bei definierten Temperaturen von etwa 10 °C bis über 70 °C zu vermessen . Innerhalb der Kammer werden mikroskopisch kleine Proteinkristalle auf festen Trägerchips („HARE-Chips“) befestigt. Die Feuchtigkeit wird über einen geschlossenen Wasserdampfkreislauf geregelt und der Temperatur- und Luftstrom über getrennte Regelkreise eingestellt . Zwei austauschbare Module (eine Peltier-Einheit für 7–55 °C und Heizwiderstände für 50–70 °C) decken so den gesamten physiologisch relevanten Bereich ab . Nach Zugabe des Substrats per Flüssigkeitstropfen (mittels der LAMA-Methode – Liquid Application Method for time-resolved Analyses) beginnt die enzymatische Reaktion. In definierten Zeitabständen (ms bis s) werden dann Serien von Röntgenbeugungsbildern aufgezeichnet. Durch die serielle Messung an vielen Einzelkristallen wird einerseits Strahlenschaden verteilt und andererseits die Möglichkeit geschaffen, zeitaufgelöste Schnappschüsse der Reaktion bei verschiedenen Temperaturen zu erhalten .

Technisch beruht 5D-SSX auf der bekannten serielle Synchrotron-Kristallographie (SSX), erweitert um Temperaturvariation . Früher wurden für zeitaufgelöste Experimente oft teure Laserpulse an XFEL-Anlagen oder spezielle „Spitrobot“-Mischer verwendet. Die neuartige Umgebungskammer löst hingegen das Kondensationsproblem bei hoher Luftfeuchtigkeit, wie es nötig ist, um Proteine in ihrem Kristall intakt zu halten . Die entwickelte Apparatur ist vollständig kompatibel mit früheren Methoden wie HARE (schnelles Hin- und Zurückspulen der Chips) und ermöglicht so Multi-Temperatur-Experimente bei frei wählbaren Verzögerungszeiten .

Ergebnisse: Beispiele für Enzymdynamik

In Proof-of-Concept-Studien demonstrierte das Team 5D-SSX an zwei Modellenzymen: der mesophilen β-Lactamase CTX-M-14 (antibiotika-resistente Penicillinase) und der thermophilen Xylose-Isomerase (ein Industrieenzym) . Beide Enzyme wurden bei verschiedenen Temperaturen mit einem Substrat (z.B. Piperacillin bzw. Glucose) untersucht. Die Messreihen zeigen eindrücklich, dass Temperaturänderungen sowohl die Reaktionsgeschwindigkeit als auch die beobachtbaren Zwischenstufen verändern. So konnte etwa bei der Xylose-Isomerase bei 20 °C kaum ein offenkettiges Glucose-Zwischenprodukt nachgewiesen werden (das Enzym ist dort fast inaktiv), während bei 50 °C deutlich freie Kohlenstoffketten-Strukturen im aktiven Zentrum sichtbar wurden . Dies zeigt, dass einige reaktionsrelevante Zwischenzustände nur bei erhöhten Temperaturen entstehen und durch bloßes Verlängern der Zeit bei niedrigerer Temperatur nicht erreicht werden können .

Analog wurden bei der CTX-M-14 β-Lactamase typische katalytische Zwischenprodukte und Konformationsänderungen mit Temperaturabhängigkeit erfasst. Die Analysen der Temperatur-Datensätze ergaben, dass höhere Temperaturen eine stärkere atomare Verschiebung (größere ADP-Werte) und eine verschobene Konformationsverteilung bewirken. Insgesamt zeigten die Autoren, dass sich die Konformationslandschaft und Umsatzkinetik beider Enzyme durch die Temperatur modulieren lassen . 5D-SSX ermöglichte es damit, zusätzliche Strukturinformationen zu gewinnen: Einige molekulare Zwischenschritte wurden bei 37 °C bzw. 50 °C deutlich stärker belegt als bei 20 °C. So können dank 5D-SSX alternative Zwischenzustände identifiziert werden, die bei Raumtemperatur-Daten verborgen bleiben würden .

Bedeutung für Biochemie und Medizin

Die 5D-Methodik eröffnet damit völlig neue Einblicke in Enzymmechanismen unter fast natürlichen Bedingungen. Wie Schulz betont, erlaubt 5D-SSX, die Proteindynamik in dem Temperaturbereich zu untersuchen, in dem die Enzyme natürlich vorkommen – etwa im menschlichen Körper . Insbesondere für Enzyme mit medizinischer Relevanz wie β-Lactamasen ist dies wichtig: Die Kenntnis exakter Zwischenprodukte und aktiver Konformationen bei Körpertemperatur kann helfen, bessere Inhibitoren und neue Antibiotika zu entwickeln . Auch für die allgemeine Wirkstoffforschung ist entscheidend, dass Strukturdaten physiologische Treue aufweisen.

Pedram Mehrabi (Uni Hamburg) hebt hervor, dass die 5D-Plattform vielseitig ist und Daten über Zeit und Temperatur hinweg liefert . Schulz ergänzt: „5D-SSX eröffnet neue Perspektiven für die biomedizinische Forschung. Das Verständnis der Protein-Dynamik unter realistischen Bedingungen ist entscheidend, insbesondere bei der Entwicklung von Antibiotika oder der Aufklärung krankheitsrelevanter Mechanismen“ . Die Autoren betonen auch, dass Temperatur-Variation Substratdiffusion und Kinetik in Kristallen moduliert, wodurch Enzymumsatz und Mechanismen genauer charakterisiert werden können .

Fazit. Die neue 5D-Kristallographie verbindet zeitaufgelöste und multitemperaturale Experimente in einem durchgehenden Workflow. Sie füllt die Lücke zwischen starren Kryostrukturen und dynamischem Enzymverhalten im Labor. Durch Anpassung der Temperatur an physiologische Werte lassen sich Prozesse abbilden, die mit konventioneller Kristallographie nicht sichtbar wären . Künftig dürften sich mit 5D-SSX zahlreiche weitere Enzymsysteme untersuchen lassen – von Stoffwechselenzymen bis hin zu komplexen Proteinkomplexen – und so die Rolle der Temperatur in Katalyse, Allosterie und Ligandenbindung umfassender erforschen .

Quellen: Die dargestellten Ergebnisse basieren auf einer Veröffentlichung in Nature Communications sowie auf begleitenden Pressemitteilungen der Universität Hamburg und der Max-Planck-Gesellschaft .


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