Die
1920er Jahre in Deutschland – die Ära der Weimarer Republik – sind in der
populären Vorstellung häufig mit Bildern von Rausch und Exzess verbunden.
Insbesondere Berlin gilt als mythisches Zentrum eines hemmungslosen
Nachtlebens, in dem Drogen wie Kokain und Morphium angeblich massenhaft
konsumiert wurden. Doch wie verbreitet war der Drogenkonsum in der Weimarer
Republik tatsächlich? Neuere historische Untersuchungen zeigen, dass die
Annahme eines allgegenwärtigen Drogenmissbrauchs empirisch so nicht haltbar ist[1]. Zwar warnten Ärzte und Medien damals vor einer „Kokainwelle“,
die die „Volksgesundheit“ bedrohe, doch fehlen belastbare Belege für
einen signifikanten Anstieg des Kokainkonsums in den 1920er Jahren[1]. Vielmehr entstand ein Großteil der zeitgenössischen moral panic
um Drogen durch spezifische Kontextfaktoren: der Nachkriegsgesellschaft, den
damaligen medizinischen Theorien über Sucht und nicht zuletzt der Faszination
und dem Schrecken, den das Thema in Öffentlichkeit und Kultur hervorrief[2][3].
Diese
Arbeit unternimmt eine umfassende historische Analyse des Drogenkonsums im
Deutschland der 1920er Jahre – von den gängigen Substanzen (Alkohol, Kokain,
Morphium/Opium, Cannabis u.a.) über soziale Verbreitung und Konsumformen bis
hin zu Gesetzgebung, medizinischen Aspekten und kulturellen Reflexionen.
Behandelt werden zunächst die verschiedenen sozialen Milieus und Szenen,
in denen Drogen konsumiert wurden, gefolgt von einer Darstellung der
rechtlichen Rahmenbedingungen und polizeilichen Maßnahmen jener Zeit. Es
schließen sich Kapitel über die medizinische Nutzung einiger Drogen sowie über
die gesellschaftliche Akzeptanz und moralischen Debatten an. Ein eigenes
Kapitel widmet sich den internationalen Einflüssen – etwa durch den Völkerbund
und globale Handelsströme – auf die deutsche Drogenpolitik. Zur Untermauerung
der Analyse werden zeitgenössische Statistiken, medizinische Berichte und
Zeitungsquellen herangezogen. Abschließend wird beleuchtet, wie sich der
Drogenkonsum und die Diskussion darüber in Kultur, Literatur und Kunst der
Weimarer Republik niederschlugen. Ein Fazit fasst die zentralen Erkenntnisse
zusammen. Die Arbeit verfolgt einen wissenschaftlich-neutralen Ansatz und
stützt sich auf aktuelle Forschung ebenso wie auf Quellenmaterial aus der Weimarer
Zeit.
Formen des
Konsums und Verbreitung in verschiedenen sozialen Milieus
Nach dem Ersten Weltkrieg trat in Deutschland eine vielfältige Rauschmittelkultur
zutage, die sich je nach sozialem Umfeld stark unterschied. Alkohol
blieb zwar die mit Abstand meistkonsumierte Droge und war gesellschaftlich
verankert, doch veränderten sich Konsumgewohnheiten: Hyperinflation,
Arbeitslosigkeit und hohe Steuern auf Spirituosen führten in den 1920ern zu
einem Rückgang des Alkoholkonsums im Vergleich zum 19. Jahrhundert[4].
Gleichzeitig formierte sich aber eine aktive Anti-Alkohol-Bewegung. 1921
vereinigten sich in Berlin Abstinenzler und Gemäßigte in der Deutschen Reichshauptstelle
gegen den Alkoholismus, um gegen den „Teufel Alkohol“ vorzugehen[5].
Radikale Forderungen nach einem vollständigen Alkoholverbot (analog zur
US-Prohibition) fanden jedoch keine Mehrheit – wirtschaftliche Interessen und
die Staatsfinanzen standen entgegen, sodass gesetzliche Initiativen zum
Alkoholverbot scheiterten[6].
Lediglich moderate Einschränkungen wurden erlassen, etwa ein Verbot
hochprozentiger Ausschank an Jugendliche durch das Gaststättengesetz von
1930[7].
Insgesamt blieb Alkohol in allen Bevölkerungsschichten präsent – vom Bier in
der Arbeiterkneipe bis zum Sekt der Oberschicht – und seine gesellschaftliche
Akzeptanz wurde in der Weimarer Republik kaum ernsthaft erschüttert.
Demgegenüber haftete dem Konsum harter Drogen wie Kokain,
Morphium (umgangssprachlich „Morphium“ für Morphin) oder Heroin sowie Opium und
neuartigen synthetischen Mitteln ein subversiver, exotischer Ruf an. Diese
Substanzen gelangten in sehr unterschiedliche Milieus und erfüllten dort
verschiedene Funktionen:
In der medizinischen Sphäre und bei Kriegsveteranen: Zahlreiche Verwundete des Ersten Weltkriegs waren auf starke
Schmerzmittel wie Morphin angewiesen, was zur Entstehung einer beträchtlichen
Zahl von Morphinabhängigen führte[8].
Ärzte hatten während des Krieges oft großzügig Morphium gespritzt, um die
Schmerzen der Soldaten zu lindern, mit der Folge, dass viele nach Kriegsende
süchtig blieben[8].
Im Umfeld von Lazaretten und Krankenhäusern der Nachkriegszeit entwickelte sich
daher ein Kreis von „Morphinisten“, der nicht selten aus ehemaligen
Sanitätern, Krankenschwestern oder traumatisierten Frontkämpfern bestand. Auch
der stimulierende Kokain wurde im Krieg genutzt – Berichten zufolge
setzten ihn einige Militärärzte ein, um die Leistungsfähigkeit der Soldaten zu
steigern und Ängste vor der Schlacht zu betäuben[9][10].
Gegen Kriegsende 1918 waren die Depots der Armee regelrecht voll mit Kokain,
während Alkohol knapp war[11].
Ehemalige Militärangehörige schufen aus diesen Beständen bald einen
Schwarzmarkt, um den massenhaften Bedarf im gebeutelten Nachkriegsdeutschland
zu bedienen[12].
Viele Kriegsheimkehrer litten an körperlichen und seelischen Schmerzen – sei es
aufgrund erlittener Verletzungen oder traumatischer Erlebnisse – und suchten im
Morphium oder Opium Linderung. Das berühmte Fernsehserien-Beispiel „Babylon
Berlin“ zeigt den fiktiven Kommissar Gereon Rath, der in den 1920ern in
Berliner Apotheken regelmäßig sein „Mittelchen“ gegen Kriegszittern und
Trauma holt[8] –
ein Szenario, das durchaus reale Grundlage hat. So wurde Heroin
(Diacetylmorphin, ein Morphinderivat) seit seiner Einführung durch Bayer 1898
zunächst als vermeintlich nicht süchtig machendes Hustenmittel vermarktet; in
der Weimarer Zeit war es zwar bereits als suchterzeugend erkannt, aber
weiterhin legal auf Rezept erhältlich[13][14].
Viele Schmerzpatienten, ob Kriegsversehrte oder andere chronisch Kranke,
erhielten in den 1920ern Opioide (Morphin, Heroin, Codein) oder Kokain zu
therapeutischen Zwecken – nicht selten mit dem Ergebnis, dass medizinischer
Gebrauch in Abhängigkeit umschlug. Dieses medizinisch-induzierte
Drogenmilieu – Ärzte, Pfleger und Patienten – war laut neueren Forschungen
tatsächlich eine der Hauptgruppen der Drogenabhängigen, weit mehr als die
Bohème[15][3].
Im großstädtischen Nachtleben (Bohème und Halbwelt): Berlins legendäre Vergnügungskultur der Goldenen Zwanziger bot
den Nährboden für einen anderen Typus des Drogenkonsums. In den Bars, Cabarets
und Clubs zwischen Friedrichstraße und Kurfürstendamm mischten sich Künstler,
wohlhabende Bürger und zwielichtige Gestalten; hier zirkulierte Kokain als Modedroge
der eleganten Dekadenz[16][17].
Bekannte Tänzerinnen und Entertainer wie Anita Berber verkörperten diesen
Milieu-Typus: Die skandalumwitterte Nackttänzerin betäubte sich vor ihren
Auftritten im Wintergarten, der Rakete oder dem Toppkeller
am Kurfürstendamm mit Kokain, Morphium und Cognac[18][19].
Berber inszenierte das Laster sogar künstlerisch – einer ihrer Tänze hieß
provokant „Kokain“ – und ihr exzessiver Konsum wurde Teil ihres
öffentlichen Images. Zeitzeugen beschrieben sie als „dämonische Frau“,
verdorben bis ins Mark[20].
Ihr früher Tod 1928 mit nur 29 Jahren (offiziell an Tuberkulose, mitverursacht
durch ihren Drogenmissbrauch) ging als warnendes Beispiel durch die Presse[21].
Figuren wie Anita Berber, die als Kokain-Ikone der Weimarer Zeit galt,
und andere Prominente aus der Künstler- und Society-Szene sorgten für starke
öffentliche Aufmerksamkeit[22][23].
In diesen Kreisen wurde Kokain gerne in Gesellschaft konsumiert – zu später
Stunde in Nachtclubs oder privaten Salons. Die Süchtigen selbst prägten einen
Jargon: Kokain hieß im Szene-Slang „Koks“, und die depressive
Verstimmung nach dem Rausch wurde verharmlosend „die Reaktion“ genannt[24].
Wie Ernst Joël und Fritz Fränkel 1924 in ihrem Buch „Der Cocainismus“
schilderten, nahm der typische städtische Kokainist sein Pulvergeschnupfe „im
Kreise gleichgesinnter Kameraden“ in Lokalen, wo er vom Personal und den
Dealern gut gekannt war[25].
In den vornehmen Etablissements gehörte Kokain bald zum offen zelebrierten
Luxusgut: „Dort, wo fast jeder seine Cocainbüchse bei sich trägt,“
beobachteten Joël und Fränkel, „bestellt man sich eine Prise kaum anders als
ein Glas Kognak“[26].
Die Botschaft dieser zur Schau gestellten Routine lautete: Seht her, wir
können es uns leisten und niemand kann es uns verbieten! Der Drogenkonsum
avancierte damit in Teilen der Großstadt-Bohème zu einem Statussymbol, das Noblesse
und schockierende Verruchtheit zugleich ausdrückte[27].
Allerdings war diese glamouröse Kokainszene zahlenmäßig überschaubar und
konzentrierte sich auf bestimmte Hotspots der Hauptstadt; in kleineren Städten
oder ländlichen Regionen blieb ein solcher Lifestyle-Drogenkonsum nahezu
unbekannt.
Im kriminellen Milieu und der Unterschicht:
Weniger im Licht der Öffentlichkeit spielten sich Drogenverkehre am unteren
Rand der Gesellschaft ab. Eine bemerkenswerte zeitgenössische Reportage im
sozialdemokratischen „Vorwärts“ (August 1924) zeichnete ein drastisches
Bild der urbanen Kokain-Subkultur in Berlin jenseits der glitzernden
Partyszene[28][29].
Demnach existierte rund um den Alexanderplatz eine Drogenszene in
Obdachlosenasylen und Elendskneipen. Kokain erschien hier nicht als Party-Droge
der Bohème, sondern als Droge der Verzweifelten: „für die Bettler,
Obdachlosen und Kleinkriminellen“, für die entwurzelten und verarmten Teile
der Nachkriegsgesellschaft[30].
Diese Konsumenten – viele durch den Krieg aus der Bahn geworfen, ohne Wohnung,
Arbeit, Brot und Hoffnung – griffen zum „Pulver“, um ihre trostlose Lage
auszuhalten[31]. „Kokain
hilft ihnen zunächst, ihre Perspektivlosigkeit und ihr Elend zu ertragen,“
so der Bericht, „stürzt sie dann jedoch nur noch tiefer ins Unglück.“
Schließlich brächten die „vier Kardinalübel eines Verlorenen: Wohnungslos,
Arbeitslos, Brotlos, Hoffnungslos“ ein fünftes Übel hervor – das „Betäubungselend“[32][33].
Die Beschreibung deckt sich frappierend mit Phänomenen, die man heute aus
offenen Drogenszenen kennt: Kleinhandel unter Abhängigen,
Beschaffungskriminalität und Prostitution zur Finanzierung der Sucht[34].
Kokain war in diesem Milieu das Fluchtmittel der Ärmsten, eine kurzfristige
Linderung von Hunger, Kälte und seelischem Schmerz – erkauft um den Preis eines
Teufelskreises sich verschlimmernder Abhängigkeit. Bemerkenswert ist, dass das
Wort „Kokolores“ damals im Berliner Slang als Bezeichnung für den Kater
nach einem Kokainrausch diente, also für die Unsinnigkeit und depressive
Wirrnis, die dem kurzen Höhenflug folgt[35]
(heute bedeutet Kokolores nur noch „Quatsch“). Die Existenz dieser versteckten
Drogenwelt unter den sozial Deklassierten widerlegt das Klischee, Drogenkonsum
der 20er sei nur ein vergnügtes Laster der Reichen gewesen – vielmehr hatte er
oft seine Wurzeln in bitterer sozialer Not.
Cannabis und andere Substanzen: Cannabis
(Haschisch/Hanf) spielte im Vergleich zu Opium, Kokain oder Morphin in der
Weimarer Republik eine marginale Rolle. Zwar war indischer Hanf durchaus
als Rausch- und Heilmittel bekannt (Cannabis-Präparate wurden im 19.
Jahrhundert zeitweilig als Schmerz- oder Schlafmittel verwendet), aber in den
1920ern gab es in Deutschland keine nennenswerte Cannabis-Konsumentenszene. Der
Stoff galt eher als exotisch – vielleicht rauchten einige Künstler oder
Reisende gelegentlich Haschisch in kleinen Zirkeln, und in Hafenstädten wie
Hamburg könnte es durch Seeleute oder orientalische Einwanderer vereinzelt
konsumiert worden sein. Breite Bevölkerungsschichten blieben davon unberührt.
Dies mag mit erklären, warum Cannabis ohne großes Aufheben 1929/30 in die
höchste Kontrollstufe des Opiumgesetzes aufgenommen wurde[13][14]
(siehe Kapitel Gesetzgebung), obwohl keine akute Haschisch-Epidemie
vorlag. Neben Cannabis gab es noch andere gängige Rauschmittel der Zeit:
Schlafmittel wie Veronal (Barbital) und andere Barbiturate wurden ab den
1900ern populär und auch in den 20ern rege verschrieben – woraufhin manche
Patienten davon abhängig wurden. Ebenso waren Äther oder Chloroform
gelegentlich Missbrauchsobjekte (Ätherschnüffeln war etwa in
Nachkriegs-Österreich ein Problem, in Deutschland aber weniger verbreitet). Nikotin
und Koffein – also Zigaretten und Kaffee – seien der Vollständigkeit
halber erwähnt: Beides erlebte in der Zwischenkriegszeit einen Boom und sind
natürlich Rauschmittel, wurden aber kulturell nicht dem Drogenproblem
zugerechnet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Drogenkonsum in den 1920er
Jahren je nach sozialem Umfeld sehr unterschiedliche Gesichter hatte.
Einerseits das Bild der glitzernden Nachtclubs, in denen Kokain unter
Charleston-Klängen die ausgelassene Stimmung befeuerte, andererseits das Bild
der stillen Elendsquartiere, wo dasselbe Kokain verzweifelten Gestalten das
Überleben von Tag zu Tag erleichtern sollte. Dazwischen lag eine breite Zone
von medizinisch und kriegsbedingt Abhängigen, von Kleinkriminellen und
Gelegenheitskonsumenten. Die quantitative Verbreitung war insgesamt geringer,
als die farbigen Zeitberichte vermuten lassen – insbesondere außerhalb Berlins
blieb harter Drogenkonsum ein seltenes Phänomen. Doch die unterschiedlichen Szenen
überschatteten sich teilweise: So verkehrte selbst in den schäbigsten Spelunken
mitunter ein relativ wohlhabendes Publikum, wie Joël und Fränkel beobachteten[36][37],
während zugleich in eleganten Bars der Halbwelt-Charakter (etwa durch anwesende
Prostituierte und Kleinkriminelle) nie ganz fehlte. Die Drogenmilieus der
Weimarer Zeit waren also heterogen und durchlässig – ein Spiegelbild der
sozialen Spannungen und Umbrüche jener Jahre.
Gesetzgebung,
staatliche Kontrolle und polizeiliche Maßnahmen
Die Weimarer Republik übernahm in Fragen der Drogenpolitik ein
schwieriges Erbe des Kaiserreichs und des Weltkriegs. Bereits vor 1918 gab es
erste Ansätze zur Kontrolle von Rauschgiften: Morphium etwa war bis 1901 in
Deutschland frei verkäuflich, dann aber – angesichts zunehmender
Abhängigkeitsfälle um die Jahrhundertwende – durch Reichstagsbeschluss nur noch
gegen Rezept in Apotheken erhältlich[38][39].
Dieses frühe Morphin-Verbot für den freien Handel diente als erste
drogenpolitische Maßnahme Deutschlands. Im Ersten Weltkrieg verschärfte sich
das Problem jedoch: Die Militärverwaltung gab Morphium und Kokain in großem
Umfang an Lazarette aus; gegen Ende des Krieges kam es vermehrt zu Diebstählen
von Morphium aus Lazaretten und Apotheken[38].
Zudem florierte ein illegaler Handel mit beiden Substanzen, befeuert durch die
nach Kriegsende unzureichende offizielle Versorgung der vielen Süchtigen. Die
Polizei berichtete von professionellen Dealern – etwa dem legendären „Koks-Emil“
in Berlin –, die in den nächtlichen Straßen ihr Pulver anboten und ständig auf
der Flucht vor der Polizei waren[40][41]. Bild
1 illustriert dies: Es zeigt den berüchtigten Straßenhändler „Koks Emil“
im Mai 1929 in Berlin bei seiner nächtlichen „Arbeit“. Er verkaufte
Kokain in kleinen Kapseln für 5 Mark pro Prise – ein hoher Preis – und seine
Kundschaft bestand laut Polizeibericht größtenteils aus Frauen der Halbwelt
(Prostituierten). Ein Komplize („Spanner“) hielt im Hintergrund Wache
und warnte durch Pfiffe vor nahenden Ordnungshütern[40].
Bild 1: Kokain-Straßenhandel im Berlin der
späten 1920er Jahre – der als „Koks Emil“ berüchtigte Kokainverkäufer
bietet 1929 nachts Passanten sein Rauschgift in kleinen Kapseln an. Eine Prise
kostet 5 Mark. Seine Hauptkundschaft sind Frauen der Halbwelt (Prostituierte).
Ein „Spanner“ (Komplice im Hintergrund) warnt ihn durch Pfiff vor dem
Nahen der Polizei[40].
Angesichts solcher Zustände und des wachsenden öffentlichen Drucks
suchte der Staat nach gesetzgeberischen Lösungen. Ein wichtiger äußerer Impuls
kam dabei aus der internationalen Drogenpolitik: Das Deutsche Reich hatte 1912
an der Internationalen Opiumkonferenz in Den Haag teilgenommen, die erstmals
verbindliche Regeln für den Umgang mit Opium und verwandten Drogen beschloss[42].
Das Kaiserreich ratifizierte die Haager Opiumkonvention jedoch zunächst nicht.
Erst der Vertrag von Versailles 1919 zwang Deutschland in Artikel 295
zur Umsetzung dieser Abkommen[43].
Die junge Weimarer Republik erließ daraufhin – ziemlich verspätet – am 30.
Dezember 1920 ein „Gesetz zur Ausführung des Internationalen Opiumabkommens
von 1912“[44].
Dieses erste Opiumgesetz von 1920 hatte allerdings noch einen geringen
Regelungsgehalt und ließ beträchtliche Lücken: Viele Opiumderivate und Kokain
waren weiterhin leicht erhältlich, insbesondere für medizinische Zwecke[45].
So konnten Ärzte z.B. nach wie vor Heroin und Morphin auf Rezept verschreiben;
die Kontrolle des tatsächlichen Verkehrs war lasch.
Erst Ende der 1920er kam es zu einer deutlich schärferen rechtlichen
Regulierung. Nach mehreren vorbereitenden internationalen Konferenzen (u.a.
einer Opiumkonferenz 1924/25 unter dem Völkerbund) verabschiedete der Reichstag
im Dezember 1929 ein neues, umfassendes Opiumgesetz (Gesetz über den
Verkehr mit Betäubungsmitteln)[46].
Dieses trat am 10. Dezember 1929 in Kraft – nahezu 90 Jahre später bekannt als
historisches Ereignis[46].
Das Opiumgesetz von 1929 listete in §1 Abs.1 explizit alle erfassten Substanzen
auf: „Rohopium, medizinisches Opium, Morphin, Diacetylmorphin (Heroin),
Kokablätter, Rohkokain, Kokain, Ekgonin sowie Indischer Hanf“ (Cannabis)
und alle deren Salze[13].
Damit waren praktisch alle wichtigen natürlichen Rauschgifte und ihre Derivate
erfasst. Diese Stoffe wurden fortan der Verschreibungspflicht
unterstellt und durften nur noch zu medizinischen Zwecken legal erworben werden[45].
Ohne ärztliches Rezept war der Erwerb, Besitz und Handel nun strafbar.
Gesetzesverstöße – etwa illegaler Handel – konnten mit Gefängnis bis zu 3
Jahren geahndet werden[47].
Bemerkenswert ist, dass mit diesem Gesetz erstmals auch Cannabis (bis
dahin kaum verbreitet, wie erwähnt) in Deutschland faktisch verboten wurde[48][49].
Parallel zum Opiumgesetz erging wenig später (1930) eine
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, welche die Details der Rezeptpflicht
und Buchführung regelte[50][51].
Die Polizei der Weimarer Republik stand vor der Herausforderung,
die neuen Drogengesetze durchzusetzen – insbesondere in der Hauptstadt Berlin,
die als Sorgenkind Nr.1 galt[52].
Schon zuvor hatte die Berliner Polizei mit Razzien versucht, der Szene Herr zu
werden. Der Journalist Leo Heller, der gerne mit Beamten auf Streifzug
ging, berichtet etwa von einer frühen 1920er-Razzia in einer „Kokainhöhle um
die Ecke“: Blitzschnell wurde das Etablissement hochgenommen, zahlreiche
Dealer und Konsumenten „kassiert“[53][54].
Heller schildert in seinem Buch „Berliner Razzien“ plastisch, wie die
bleiche Pianistin mitten im Lied verstummt, als die Polizei einbricht – ein
fast satirisches Panoptikum des lasterhaften Nachtlebens[55][54].
Doch trotz solcher Einsätze blieb die Drogenbekämpfung schwierig. Die illegale
Einfuhr von Rauschgift war ein großes Problem – nach dem Krieg gelangten
z.B. Rauschgift aus ehemals besetzten Gebieten oder über internationale
Schmuggler nach Deutschland[56][57].
Einige inländische Pharmafabriken (etwa die Firma Merck in Darmstadt, ein
früher Kokainproduzent) hatten während und nach dem Krieg große Bestände
angehäuft; auch diese fanden teilweise ihren Weg auf den Schwarzmarkt[12].
Daneben, wie erwähnt, stammte viel Kokain aus Beständen der Armee und von
ehemals militärischen Ärzten. Die Polizei registrierte zudem zahlreiche Diebstähle
aus Apotheken und Krankenhäusern, insbesondere Morphin, das von
Angestellten entwendet und weiterverkauft wurde[38].
Zur Koordination der legalen Verteilung richtete der Staat eine zentrale Stelle
ein: die Opiumstelle Berlin beim Reichsgesundheitsamt überwachte ab den
1920ern den legalen Verkehr mit Betäubungsmitteln – vom Import der Rohstoffe
bis zur Auslieferung an Apotheken[58].
Jede Apotheke erhielt in der Folge eine Erlaubnisnummer für den Umgang mit
Betäubungsmitteln; dies war der Grundstein des bis heute praktizierten Apothekenkontrollsystems[59].
Trotz der neuen Gesetze und Kontrollen gelang es aber keineswegs, den
Drogenkonsum schlagartig zu beenden. Viele Süchtige, insbesondere jene mit
finanziellen Mitteln oder Beziehungen, setzten ihren Konsum fort – sie wichen etwa
auf Auslandsquellen aus oder missbrauchten weiterhin ärztliche Rezepte. Die
Polizei stieß auch auf Fälle echter ärztlicher Verschreibungen in auffällig
hohen Mengen, etwa ein Arzt, der 100 Gramm reines Kokain verschrieb[60].
Diese Verschreibungsdelikte waren ein grauer Bereich, denn formal legal,
doch oft offensichtlich zweckwidrig. Insgesamt blieb Berlin ein Brennpunkt:
1930, nach Inkrafttreten des Opiumgesetzes, hieß es lakonisch, „wer von den
Süchtigen konnte, machte weiter wie bisher“[61].
Erst die Nationalsozialisten ab 1933 verschärften die Gangart nochmals massiv:
Die neuen Machthaber erklärten dem „Rauschgift“ den offiziellen Krieg.
Prominente Nazis wie Hermann Göring – selbst Morphinist – stilisierten die
Drogenbekämpfung zum ideologischen Feldzug; der „deutsche Volkskörper“
müsse „rein gehalten“ werden, so die Rhetorik[62].
Unter diesem Vorzeichen wurden in den 1930ern Süchtige stärker verfolgt, zum
Teil zwangsentwöhnt oder in geschlossenen Anstalten untergebracht (die
NS-Drogenpolitik ist jedoch ein eigenes Thema jenseits des
Betrachtungszeitraums). Wichtig ist: Das Opiumgesetz von 1929 blieb in
seinen Grundzügen auch im „Dritten Reich“ und sogar bis weit nach 1945 in Kraft[63][64] –
es bildete den Kern der deutschen Betäubungsmittelgesetzgebung, der erst 1972
mit dem modernen BtMG abgelöst wurde. Insofern legte die Weimarer Republik mit
dieser Gesetzgebung einen nachhaltigen Rahmen für den staatlichen Umgang mit
Drogen fest.
Zusammengefasst wandelte sich die rechtliche Situation von einer laxen
Vorkriegs- und frühnachkriegszeitlichen Haltung (wo viele Substanzen frei oder
leicht verfügbar waren) hin zu einer immer stringenteren Kontrolle Ende der
1920er. Die Polizei versuchte, mit Razzien und Überwachung der Verschreibungen
gegenzusteuern, stieß aber oft an praktische Grenzen. Besonders deutlich zeigt
sich an der Drogenpolitik auch ein Aspekt der Internationalisierung:
Deutschland handelte nicht isoliert, sondern im Kontext der Abkommen des
Völkerbundes und internationaler Erwartungen. Diese globalen Einflüsse werden
im nächsten Abschnitt genauer betrachtet.
Medizinische
Nutzung von Drogen im Kontext der Weimarer Republik
Viele der heute als Rauschgifte stigmatisierten Substanzen hatten in
den 1920er Jahren ganz selbstverständliche medizinische Anwendungen.
Morphium, Kokain, Heroin, Opium – sie alle galten ursprünglich als wertvolle
Arzneimittel und waren in ärztlichen Kreisen durchaus etabliert. Die Weimarer
Zeit bildet hier keine scharfe Zäsur, sondern vielmehr einen Übergang: Während
einerseits der Bedarf an diesen Medikamenten nach dem Ersten Weltkrieg enorm
gestiegen war (siehe oben: zahlreiche Verletzte und Traumatisierte), wuchs
andererseits unter Medizinern die Erkenntnis, dass diese Mittel erhebliches
Suchtpotential bergen und entsprechend vorsichtig eingesetzt werden müssen.
Dieser Zwiespalt prägte die medizinische Drogenverwendung der 20er Jahre.
Morphium (Morphin) war das unverzichtbare
Schmerzmittel für schwere Verletzungen. Nach 1918 gab es unzählige
Amputationspatienten, chronische Schmerzkranke und Menschen mit Kriegsneurosen,
denen Morphin Linderung verschaffte. Entsprechend verbreitet blieb
Morphin in der ärztlichen Praxis: Es wurde in Krankenhäusern, Nervenkliniken
und von Hausärzten verschrieben, oft auch über längere Zeiträume. Dadurch kam
es zu vielen Fällen von Morphinismus, wie man die Abhängigkeit nannte.
In psychiatrischen Fachkreisen war Morphinismus seit dem 19. Jahrhundert
bekannt; in den 20ern betrachteten viele Mediziner die durch den Krieg
ausgelöste Zunahme Morphinsüchtiger als ernstzunehmende Bedrohung für die
Gesellschaft[65] –
man sorgte sich, das „beste Menschenmaterial“ sei dem Rauschgift verfallen, wo
doch der „Wiederaufstieg der Nation“ gesichert werden müsse[65].
Dennoch blieb Morphin als Arznei unentbehrlich. Manche Ärzte gerieten in einen
Gewissenskonflikt: einerseits wollten sie Patienten nicht die nötige
Schmerztherapie versagen, andererseits beobachteten sie die Entstehung von
Süchten.
Heroin, ein Abkömmling des Morphins, war seit
seiner Einführung durch Bayer (1898) in vielen Ländern verbreitet als starkes
Analgetikum und Hustenmittel. In Deutschland war es bis Ende der 1920er
ebenfalls rezeptfrei erhältlich – erst das Opiumgesetz 1929 machte Heroin
strikt verschreibungspflichtig[45].
Zuvor konnten selbst Nichtmediziner Heroin in Apotheken unter Handelsnamen wie Diacetylmorphin
oder Euphon kaufen. Heroin galt anfangs als „Wundermittel“ gegen
hartnäckigen Husten und Tuberkulosebeschwerden. Zahlreiche zeitgenössische
medizinische Berichte priesen seine effektive, beruhigende Wirkung. Allerdings
zeigte sich rasch, dass Heroin noch süchtiger machen konnte als Morphin. In der
Weimarer Republik wurde Heroin bereits kritisch gesehen; viele Ärzte vermieden
es oder nutzten es sparsam. Gleichwohl fand es weiter Einsatz, insbesondere in
der Linderung schwerster Schmerzen oder bei Sterbenskranken – Indikationen, die
man als medizinisch vertretbar ansah. Dass Heroin süchtig machen kann,
war einer breiteren Öffentlichkeit zwar bekannt, aber noch fehlte die heutige
strikte Tabuisierung. So kam es vor, dass gesellschaftlich hochstehende
Persönlichkeiten heroinabhängig waren, ohne dass dies unmittelbar als
kriminell galt – man sprach eher von einer Krankheit. Ein Beispiel war etwa die
Schriftstellerin Marie Luise Fleißer, die in den 20ern vorübergehend
heroinabhängig war (allerdings im Zuge eines ärztlich verordneten
Medikamentes).
Kokain hatte im medizinischen Bereich eine
spezifische, legitime Nische: Seit der Entdeckung seiner lokalanästhetischen
Eigenschaften (um 1884) wurde es vor allem in der Augenheilkunde und
HNO-Heilkunde als örtliches Betäubungsmittel eingesetzt. Viele
Operationen am Auge oder in der Zahnmedizin waren vor Erfindung synthetischer
Anästhetika ohne Kokain kaum denkbar. In den 1920er Jahren war allerdings schon
das Ersatzmittel Novocain (Procain) verfügbar, das ähnlich wirkte, aber
weniger toxisch war – es wurde von Chemiker Alfred Einhorn 1905 entwickelt.
Dennoch blieb Kokain in manchen Fällen Mittel der Wahl. Es existierten
pharmazeutische Präparate, z.B. Kokaintropfen für kleinere Eingriffe.
Außerhalb dieser Fachgebiete nutzten einige Ärzte Kokain auch systemisch: Als Stimulans
bei Depressionen oder „Erschöpfungszuständen“ wurde Kokain gelegentlich
verabreicht, in der Hoffnung, Antrieb und Stimmung zu heben. Solche Anwendungen
waren umstritten und nahmen ab, je mehr die Abhängigkeitsgefahr ins Bewusstsein
rückte. Dennoch finden sich in medizinischen Zeitschriften der frühen 20er
Berichte, die Kokain bei Melancholie oder chronischer Müdigkeit erprobten –
stets mit dem Risiko, dass der Patient kokainsüchtig wurde. Nicht zu vergessen:
Auch Ärzte selbst experimentierten mit Kokain. Der berühmte Arzt Sigmund
Freud hatte bekanntlich in den 1880ern Selbstversuche mit Kokain gemacht; in
den 20ern gab es sicherlich ebenfalls Mediziner, die der Versuchung erlagen,
die Aufputschwirkung des Kokains an sich selbst auszukosten. Tatsächlich
zeigen historische Quellen, dass gerade Mediziner und Apotheker
überproportional häufig selbst zu Süchtigen wurden – was naheliegt, da sie am
leichtesten Zugang zu den Substanzen hatten[15][66].
Manche Kliniken verzeichneten Fälle von Pflegern oder jungen Ärzten, die
kokain- oder morphinabhängig waren. Diese intern bekannten „Berufsrisiken“ des
Umgangs mit Suchtmitteln führten später zur Einrichtung strenger
Apothekenkontrollen und Lagerbuchführungen (etwa das BTM-Buch), um Diebstahl
und Missbrauch im Gesundheitswesen einzudämmen.
Opium im klassischen Sinne (Rohopium,
Opiumtinktur) war in der Weimarer Medizin eher von geringer Bedeutung, da
Morphin, Heroin und andere Alkaloide stärker und dosierbarer wirkten. Dennoch
wurden traditionelle Opiumpräparate wie Laudanum (Opium in Alkohol
gelöst) oder Pantopon (Opiumalkaloid-Gemisch) gelegentlich verordnet,
z.B. als Beruhigungs- oder Schlafmittel. Opium konnte auch als Hausmittel
auftauchen – vor 1929 war Opium in manchen freiverkäuflichen Mixturen
enthalten, etwa in bestimmten Magen-Darm-Tropfen oder Beruhigungstees. Solche
frei verkäuflichen Drogenpräparate – oft als „geheime Rezepturen“
verkauft – wurden ab 1929 ebenfalls unterbunden oder zumindest reglementiert.
Cannabis spielte in der Schulmedizin der
1920er praktisch keine Rolle mehr. Im 19. Jahrhundert war Cannabis Indica in
Europa phasenweise als Schmerz- und Narkosemittel getestet worden, hatte sich
aber gegenüber Morphin und Chloralhydrat nicht durchgesetzt. In der Weimarer
Ära könnte Cannabis allenfalls in der Alternativmedizin oder Volksheilkunde mal
eine Verwendung gefunden haben (z.B. Hanf als Bestandteil von Salben oder
Tinkturen). Als ärztlich verschriebenes Medikament ist es für diese Zeit kaum
dokumentiert. Umso erstaunlicher, dass es 1929 ohne Widerstände mit verboten
wurde – offenbar war die medizinische Lobby für Cannabis sehr gering.
Suchtbehandlung und psychiatrische Sicht: Mit
der Zunahme der Suchtfälle entstand auch der Bedarf nach
Behandlungsmöglichkeiten. In den 1920er Jahren gab es Entzugsanstalten
und psychiatrische Kliniken, die sich der „Entwöhnung“ von Morphinisten
und Kokainisten annahmen. Allerdings steckte die Suchttherapie noch in den
Kinderschuhen. Meist wurden Entzüge durch radikales Absetzen und körperliche
Ausleitung versucht, teils unter Ersatzgabe von milderen Mitteln (z.B.
Barbituraten oder Bromiden zur Beruhigung). Der Entzug fand oft in
psychiatrischen Heilanstalten statt, da man Suchtkranke als eine Art Geisteskranke
betrachtete, die man – falls nötig – auch zwangsweise dort halten könne. In der
Tat forderten manche Ärzte rigide Maßnahmen: So plädierte z.B. der Psychiater Karl
John 1924 dafür, Morphin- und Kokainabhängige per Gesetz zwangsweise
einzuweisen und sogar zu entmündigen[67][68].
Ihm ging es weniger um das Wohl des Einzelnen als um die „Erstarkung des
Volkskörpers“ nach dem Krieg – Sucht sei auszumerzen, weil sie die
Leistungsfähigkeit der Nation untergrabe[69][70].
Solche Stimmen fanden allerdings (noch) keinen direkten Niederschlag im Gesetz;
eine allgemeine Zwangseinweisung gab es nicht in Weimar. Doch in Einzelfällen
konnten Süchtige mit richterlicher Anordnung in Anstalten gebracht werden, wenn
sie z.B. straffällig wurden oder als gemeingefährlich galten.
Die Fachärzte debattierten in den 20ern intensiv, ob Sucht eine Krankheit
ist oder Ausdruck moralischer Schwäche. Viele Psychiater stuften den Zustand
nach längerem Konsum durchaus als Krankheit ein – Paul Wolff etwa
schrieb, im fortgeschrittenen Stadium handle es sich um ein Krankheitsbild[23].
Gleichzeitig verwendeten dieselben Ärzte abwertende Begriffe wie „Degenerierte“
für die Süchtigen[71].
Wolff selbst verkörperte diese Ambivalenz: Einerseits hielt er die Willenshemmung
der Kokainisten für krankhaft bedingt, andererseits nannte er
Rauschgiftsüchtige „meist Degenerierte“ – relativierte aber: „Es gibt
genug wertvolle Persönlichkeiten unter ihnen“, man solle sie also nicht
pauschal verurteilen[23][71].
Dieses Spannungsfeld zwischen medizinischem Modell (Sucht als Krankheitsbild,
das behandelt werden muss) und moralischem Modell (Sucht als Laster
willensschwacher Individuen) prägte die ärztliche Diskussion der Weimarer Jahre
– und hat sich, wie Wolff anmerkte, bis heute nicht völlig gelegt[72].
Abschließend ist festzuhalten, dass die Medizin in der Weimarer
Republik eine doppelte Rolle im Drogenkontext spielte: Einerseits war sie
selbst Quelle von Drogenkonsum (durch Verschreibungen, durch das Personal mit
Zugang), andererseits war sie die Instanz, die das Problem zu diagnostizieren
und zu lösen suchte. Die Ärzte jener Zeit leisteten Pionierarbeit in der Suchtforschung
– sie beschrieben erstmals ausführlich die Symptome des Kokainismus und
Morphinismus, führten statistische Erhebungen in Kliniken durch und
entwickelten erste Therapiekonzepte. Doch oft waren ihre Aussagen auch von
persönlichen oder ideologischen Einstellungen gefärbt, wie im nächsten Kapitel
über moralische Debatten deutlich wird.
Gesellschaftliche
Akzeptanz und moralische Debatten
Die 1920er Jahre erlebten in Deutschland eine intensive öffentliche
Debatte über Drogen, Rausch und Sucht, die von moralischen Werturteilen und
gesellschaftlichen Ängsten geprägt war. Gesellschaftliche Akzeptanz
genossen dabei im Grunde nur die traditionellen Rauschmittel Alkohol und
Nikotin – beides war fest in Kultur und Alltag verankert, trotz sporadischer
Kritik aus Abstinenzlerkreisen. Illegalisierte Drogen wie Kokain,
Morphium/Heroin oder Etherschnüffeln dagegen galten als Laster, das zumeist
mit Dekadenz, Kriminalität oder fremden Einflüssen in Verbindung gebracht
wurde. Die Weimarer Öffentlichkeit schwankte zwischen Faszination und Empörung:
Während manche Künstler und Intellektuelle den Drogenkonsum als Teil eines
rebellischen, modernen Lebensgefühls romantisierten, verurteilten breite Kreise
– von bürgerlichen Sittenwächtern bis zu sozialistischen Sozialreformern – den
Missbrauch als Gefahr für die Moral und Gesundheit der Nation.
Moralpanik vs. Realität: Wie bereits
angedeutet, entstand ein gewisser Mythos vom drogenseligen „Tanz auf dem
Vulkan“. Romane, Filme und Zeitungsberichte der 20er stilisierten Berlin gerne
als Sündenbabel voller Koksnasen und Morphiumspritzen[73][74].
Tatsächlich war diese Darstellung überzogen (der tatsächliche Konsum war eher
ein Randphänomen, siehe Statistiken im nächsten Kapitel), doch sie prägte das
zeitgenössische Bewusstsein. Viele Bürger, die selbst nie mit Drogen in
Berührung kamen, hielten Drogenkonsum für weit verbreitet. Diese
Diskrepanz speiste sich aus reißerischen Medienberichten und warnenden
Expertenstimmen. So warnten Mediziner in Vorträgen und Artikeln unablässig vor
der drohenden „Verseuchung“ durch Rauschgift[75][76].
Begriffe wie „Giftseuche“, „Kokainwelle“ oder „Volksseuche
Kokainismus“ machten die Runde[75][77].
Die Ärzteschaft zeichnete zum Teil drastische Szenarien: Schon 1920 behauptete
ein Arzt nach der Behandlung von nur vier Kokainpatienten, „in Groß-Berlin
blüht im Verborgenen eine schreckliche Volksseuche, der Kokainismus“[78][79].
Solche Warnungen wurden von der Presse begierig aufgegriffen und verbreitet.
1923 schrieb etwa der Psychiater Fritz Fränkel, die Zahl der Kokainisten sei „seit
Beendigung des Krieges in erschreckender Weise gestiegen“[80] –
ohne statistische Belege. Diese Art der Rhetorik trug Züge einer moralischen
Panik: Man nahm vereinzelte Fälle und multiplizierte sie zum
gesamtgesellschaftlichen Notstand. In der Vorstellung vieler Kommentatoren
passte das Bild vom rauschgiftsüchtigen Großstadtsünder ideal in das Narrativ
vom sittenverfallenen Weimar. Konservative Kreise sahen darin einen
Beleg für das Versagen der Demokratie und die Entwurzelung nach 1918;
linke Kreise wiederum deuteten Drogenelend als Symptom der kapitalistischen
Krisenzeit, das nur durch Sozialreformen behoben werden könne (vgl. der
Vorwärts-Artikel, der den „Sieg des gesellschaftlichen Sozialismus“ als
einzig wahren Arzt gegen die Sucht benennt[81][82]).
Deviantes Milieu und Stigmatisierung:
Drogenkonsum wurde in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem Randgruppen
zugeschrieben – man sprach von der Bohème, der Halbwelt, Prostituierten,
„Zuhältern und Verbrechern“. Bereits vor dem Weltkrieg existierte im
bürgerlichen Feuilleton das Klischee vom pariserischen Laster, vom
Kokain als Import aus Montmartre und dem Quartier Latin, der sich dann
nach London, New York, Wien und Berlin „embolisch“ verbreitet habe[83][84].
Drogen galten demnach als etwas Fremdes, von außen Kommendes – durchaus
vergleichbar mit zeitgenössischen rassistischen Untertönen, wenn z.B. vor „asiatischem
Opium“ oder „Negerdrogen“ gewarnt wurde. Die Vorstellung,
Drogenkonsum gehöre in dunkle Ausländerviertel oder Rotlichtbezirke, war
verbreitet. So meinte etwa der russische Arzt G. Aronowitsch 1925, erst die
deutsche Besatzung und illegale Drogeneinfuhr im Weltkrieg hätten die
Kokainsucht nach Russland gebracht[85][57].
In Deutschland selbst wurde Kokain vor allem mit dem Berliner Nachtleben,
speziell auch der homosexuellen Szene, in Verbindung gebracht. Einige
Psychiater behaupteten, chronischer Kokainkonsum begünstige deviante
Sexualpraktiken – einschließlich Homosexualität[86][87].
Der Berliner Arzt Norbert Marx publizierte 1923 sogar Fallstudien, in
denen zuvor heterosexuelle Patienten unter Kokain eine Libidoumkehr zur
Homosexualität erfahren hätten[88][89].
Diese steile These führte zu heftigen Kontroversen: Kollegen wie Fränkel
widersprachen, Homosexualität sei konstitutionell und nicht durch eine Droge
„erzeugbar“ – höchstens träfen Kokain und Homo-Milieu zufällig zusammen, weil „in
allen Lokalen mit homoerotischem Publikum geschnupft wird“[90][91].
Dennoch hielt sich lange die Assoziation von Rauschgift und Lasterhaftigkeit
in einem umfassenden Sinne – wer Drogen nahm, dem traute man auch andere
Normverstöße zu, sei es promiskuitives Sexualverhalten, Kriminalität oder
geistige Dekadenz. So konstruierte der Mediziner Walter Wolf 1925 einen „Volltypus“
des Süchtigen, in dem er weibische Weichheit, Alkoholismus und latente
Homosexualität zu einer degenerativen Persönlichkeitsbeschreibung vermengte[92][93].
Solche Stigmatisierungen erschwerten natürlich die gesellschaftliche Akzeptanz
von Suchtkranken als behandlungswürdige Patienten. Vielmehr haftete ihnen das
Odium des Sittenverfalls an.
Öffentliche Diskussion und Prävention: In der
Weimarer Gesellschaft prallten in der Drogenfrage unterschiedliche Interessen
aufeinander. Reformorientierte Ärzte und Sozialpolitiker forderten Aufklärung
und staatliche Maßnahmen. So wurde beispielsweise bereits 1919 im
Reichsgesundheitsamt das Thema Drogenbekämpfung aufgegriffen. In
Publikationen und Vorträgen – etwa im Deutschen Verein für Psychiatrie –
informierte man über Suchtgefahren. 1928 initiierte der erwähnte Paul Wolff,
Schriftleiter der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, eine umfangreiche
Umfrage unter Kliniken und Ärzten, um Daten über Suchtkranke zu sammeln[94][95].
Diese Umfrage zeigte eher Entwarnung (ein „Abebben“ des Kokainismus)[95],
doch in der öffentlichen Wahrnehmung wurden die Ergebnisse teilweise verzerrt
dargestellt: So behauptete ein Beamter des Reichsgesundheitsamts vor dem
Reichstagsausschuss fälschlich, Wolffs Erhebung belege eine „außerordentliche
Zunahme“ von Morphin- und Kokainverbrauch[96].
Hier zeigt sich, wie Fakten dem jeweiligen Lagerdenken angepasst wurden. Für
konservative Moralhüter und viele Politiker stand fest, dass man hart durchgreifen
müsse. Die Verabschiedung des Opiumgesetzes 1929 geschah denn auch in einer
Atmosphäre parteiübergreifender Sorge um die Volksgesundheit. In den
Debatten wurden Drogenabhängige teils mit Alkoholikern in einem Atemzug
genannt, teils aber als gefährlicher angesehen, da Kokain & Co. „den
Charakter zersetzen und zur sittlichen Verkommenheit führen“ – so der Tenor
mancher Redebeiträge. Interessanterweise waren nicht nur rechte Kreise
alarmiert: Auch linke Intellektuelle wie Kurt Tucholsky kommentierten
kritisch das Rauschgiftelend der Zeit. Tucholsky schrieb 1929 in der
„Weltbühne“ sinngemäß, Drogen seien das Symptom einer kranken Gesellschaft, die
ihre Mitglieder verzweifeln lasse. Diese Sicht – Sucht als gesellschaftlich
verursacht – stand dem bürgerlich-konservativen Narrativ (Sucht als
persönliches Laster) entgegen.
Akzeptanz im Alltag: Für die normale
Bevölkerung waren illegale Drogen ein fernes Phänomen. Die meisten Bürger
der Weimarer Republik dürften nie mit Kokain oder Morphium in Kontakt gekommen
sein, außer vielleicht über Zeitungsskandale oder Erzählungen. Der Konsum wurde
also keineswegs toleriert, sondern man betrachtete ihn mit einer Mischung aus
Sensationslust und moralischer Ablehnung. Selbst Partygänger, die sich in
Berlin amüsierten, waren nicht automatisch Kokainschnüffler – viele werden dem
Rauschgift ausgewichen sein, auch aus Angst vor Abhängigkeit. Allerdings gab es
sicherlich Kreise, wo ein gewisses Augenzwinkern herrschte: In Kabaretts
und Künstlerclubs machten sich Nummern über Morphinisten lustig oder karikierte
man den Koksnasensound. So tauchten im Repertoire mancher Comedians
Anspielungen auf („Haben Sie mal 'nen Spritz?“ etc.). Solche
humoristischen Verarbeitungen zeigen, dass das Thema gesellschaftlich präsent
war, auch wenn es die meisten nur als Zuschauer betraf.
Zusammenfassend herrschte in der Weimarer Gesellschaft keine breite
Akzeptanz für harte Drogen – im Gegenteil, die Toleranzschwelle war
sehr gering. Wer als süchtig bekannt wurde, riskierte soziale Ächtung, es sei
denn, er bewegte sich in den wenigen bohemienhaft toleranten Zirkeln. Die
dominierenden moralischen Diskurse stellten den Drogengebrauch als Verfallssymptom
dar. Dabei spiegelten sich in der Debatte oft tiefere Konflikte: Alt versus
Neu, Ordnung versus Freiheit, Nationale Kräftigung versus individuelle
Entgrenzung. In der Drogenfrage kulminierte vieles, was die Weimarer
Gesellschaft umtrieb – von der Verarbeitung des Krieges über die Angst vor
Modernität bis hin zum Kampf zwischen liberaler Lebensführung und autoritären
Wertvorstellungen.
Internationale
Einflüsse und koloniale Drogenströme
Die Drogenproblematik der 1920er Jahre in Deutschland lässt sich nicht
losgelöst vom internationalen Kontext betrachten. Weltweit waren nach
dem Ersten Weltkrieg Anstrengungen im Gange, den Handel mit Rauschgiften zu
kontrollieren. Die Weimarer Republik war sowohl durch vertragliche
Verpflichtungen als auch durch faktische Handelsströme in diese Prozesse
eingebunden.
Völkerbund und internationale Drogenpolitik:
Deutschland trat 1926 dem Völkerbund bei und engagierte sich fortan auch
in dessen Advisory Committee on Traffic in Opium and Other Dangerous Drugs.
Bereits vorher, wie erwähnt, hatte man aufgrund des Versailler Vertrags die
Haager Opiumkonvention von 1912 ratifizieren müssen[43].
In den 1920ern folgten weitere internationale Abkommen: Etwa das Genfer
Opiumabkommen von 1925 und ein Folgeabkommen 1931, die schärfere Maßnahmen
gegen Opium, Morphium, Kokain und Cannabis vorsahen[42][44].
Deutschland unterzeichnete diese Verträge und setzte sie mit Verzögerung durch
das Opiumgesetz 1929 um. Dieser Druck von außen war ein wesentlicher
Faktor, warum gerade 1929 die nationale Gesetzgebung zustande kam – um den
Anforderungen des Völkerbunds zu genügen. Vertreter Deutschlands, darunter
Beamte des Reichsgesundheitsamts, nahmen an internationalen Konferenzen in Genf
teil, wo man sich über Importquoten, pharmazeutische Produktion und
Grenzkontrollen austauschte. Interessanterweise hatte das Deutsche Reich vor
1914 selbst zu den Vorreitern strenger Opiumgesetze gezählt (auf der
Shanghai-Konferenz 1909 unterstützte es die US-Chinesische Linie für
Prohibition[42]).
Nach dem Krieg geriet man zunächst ins Hintertreffen, holte aber dann auf. Der
internationale Einfluss zeigte sich auch in der Verwaltung: Die Einrichtung der
zentralen Opiumstelle in Berlin folgte dem Vorbild anderer Länder, die
staatliche Stellen zur Regulierung geschaffen hatten (z.B. das Bureau of
Narcotics in den USA). Auch war die Kooperation der Polizeibehörden
grenzüberschreitend: So arbeitete die Berliner Kriminalpolizei bei großen
Schmuggelfällen mit den Behörden in den Niederlanden, in der Tschechoslowakei
oder in Frankreich zusammen, um Drogenringe aufzudecken. Insgesamt lässt sich
sagen, dass die Weimarer Republik Teil einer globalen Drogenkontrollregime-Entstehung
war, die unter Ägide des Völkerbunds erstmals weltweit Standards setzte.
Koloniale und globale Handelsströme: Obwohl
Deutschland nach 1919 keine Kolonien mehr besaß, wirkten sich koloniale
Drogenströme dennoch aus. Vor dem Ersten Weltkrieg war Deutschland u.a. ein
bedeutender Heroin- und Morphin-Exporteur (Firmen wie Merck, Bayer, Boehringer
produzierten tonnenweise Morphin, das z.B. in China oder Persien Absatz fand).
Mit dem Verlust der Kolonien und durch alliierte Restriktionen wurde diese
Rolle eingeschränkt, aber der technologische Wissensvorsprung blieb:
Deutsche Chemiker waren führend in der Synthese neuer Drogen. So wurde 1927 in
Deutschland das Eukodal (Oxycodon) auf den Markt gebracht – ein starkes
Opioid, das rasch weltweit exportiert wurde. Auch das erwähnte Procain
(Novocain) als Kokainersatz kam aus deutscher Entwicklung. Diese
pharmazeutischen Produkte flossen legal oder illegal über Grenzen.
Andererseits gelangten illegale Drogen nach Deutschland:
Beispielsweise Opium aus dem „Goldenen Halbmond“ (Persien,
Türkei) und aus Indien fand via Schmuggel den Weg nach Europa. Es existierten
international operierende Schmuggelnetze, oft mit Wurzeln in den ehemaligen
Kolonialherrenstrukturen – etwa indische Opiumbauern, die britischen Firmen
Rohopium lieferten, wovon Teile abgezweigt wurden und über Häfen wie Hamburg
oder Marseille auf den Schwarzmarkt kamen. Auch das chinesische Opium,
das in Ostasien ein großes Problem darstellte, warf seinen Schatten auf Europa:
chinesische Communities in westlichen Städten betrieben manchmal Opiumhöhlen.
In Berlin gab es ein kleines Chinesenviertel im Bezirk Scheunenviertel, wo um
1925 eine Opiumhöhle ausgehoben wurde – dieser „exotische“ Fall machte
Schlagzeilen, untermauerte aber auch Vorurteile, Drogen kämen von Ausländern.
Ebenso war Cannabis/Haschisch aus kolonialen Gebieten (Nordafrika, Naher
Osten) in Paris und anderen Metropolen verfügbar; in Deutschland tauchte es
wohl vereinzelt bei französischen Besatzungssoldaten oder Orientreisenden auf.
Ein besonderes Kapitel ist Kokain: Vor dem Krieg stammte
praktisch das gesamte Kokain auf dem Weltmarkt aus Java (Niederländisch-Indien)
oder aus deutschen Labors (Merck). Nach 1918 übernahmen die Niederlande die
Führung – Amsterdam wurde ein Drehscheibe für Kokainschmuggel in den 20ern.
Viel vom in Berlin verkauften Kokain kam mutmaßlich über die Niederlande und
Belgien ins Land, teils als angebliches „Industrieprodukt“ deklariert.
Zeitgenössische Ermittlungen sprachen von „Niederländerkoks“, der in
hoher Reinheit auf dem Schwarzmarkt kursierte. Daneben gab es immer noch Altbestände:
Die Reichswehr beispielsweise hatte 1920 noch Kokainvorräte aus dem Krieg, die
dann unters Volk gerieten. Auch einige ehemalige Kolonialbeamte sollen nach
Versailles versucht haben, Chinin- und Kokainbestände aus den Kolonien
auf eigene Rechnung zu verkaufen – es gibt Berichte, wonach 1920 Koffer voller
Kokain auf dem Schwarzmarkt auftauchten, deren Herkunft unklar war (vielleicht
aus Ostafrika stammend).
Kultureller Austausch: Internationale
Einflüsse zeigten sich nicht nur im Drogenhandel, sondern auch kulturell. Die
Vorstellung vom kokainschneidenden amerikanischen Gangster oder der
pariser Apachentänzerin mit der Morphiumspritze kursierte in Büchern und
Filmen. So schuf z.B. der italienische Autor Pitigrilli (Dino Segre) 1921 den
Roman „Kokain“ (in Deutschland 1927 erschienen), der in Paris und Turin
spielt und das frivole Leben auf Droge schildert. Solche Werke beeinflussten
wiederum das hiesige Bild. Auch die Jazzmusik, die aus den USA
herüberschwappte, war mit dem Ruf verbunden, Drogenkonsum (etwa Morphium und
Marihuana in Musiker-Kreisen) zu fördern – ein Klischee, das sich in
konservativen Kreisen festsetzte. Die deutsche Polizei beobachtete mit Argwohn
z.B. schwarze US-Musiker, die in Berliner Revuen spielten, und verdächtigte sie
pauschal, Drogen zu verbreiten (obgleich dafür kaum Belege existierten). In
diesem Sinne spielten latente rassistische und fremdenfeindliche Untertöne
in der Drogenangst mit: Das „fremdländische Rauschgift“ bedroht die „rein
deutsche“ Volksgesundheit – so ließe sich eine unausgesprochene Befürchtung
zusammenfassen, die die Nazis später explizit formulierten.
Umgekehrt war die deutsche Situation auch Thema im Ausland:
Britische und amerikanische Zeitungen berichteten fasziniert vom „cocaine
scourge in Berlin“. Es existierte fast ein Schadensstolz der
Weimarer Metropole, als wilde Hauptstadt Europas zu gelten. 1924 wurde in den
USA der Drogenfahnder Captain L. Zimmermann aus New York nach Berlin
geschickt, um dort mit der Polizei Methoden der Rauschgiftbekämpfung
auszutauschen – ein Beispiel früher internationaler Kooperation. Zimmermann
zeigte sich beeindruckt vom Ausmaß des Berliner Nachtlebens, relativierte aber,
dass New York ähnliche Probleme kenne. So entstand das Bewusstsein, dass Drogen
keine rein nationale Angelegenheit sind, sondern ein transnationales Phänomen,
das auch nur grenzüberschreitend bekämpft werden könne.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Weimarer Republik Teil einer globalen
Drogenwelt war: Politisch durch die Einbindung in völkerrechtliche
Abkommen, praktisch durch legale und illegale Handelswege, kulturell durch
einen länderübergreifenden Austausch von Narrativen und Erfahrungen. Die
koloniale Vergangenheit und internationale Verkehrswege beeinflussten direkt,
welche Drogen in Deutschland verfügbar waren. Diese Verflechtungen führten
dazu, dass etwaige nationale Lösungen immer wieder an externe Faktoren stießen
– eine Erkenntnis, die bis heute Gültigkeit hat.
Statistiken,
medizinische Berichte und zeitgenössische Quellen
Zur objektiven Einschätzung des Drogenproblems in den 1920er Jahren ist
ein Blick auf verfügbare Statistiken und zeitgenössische Berichte
unerlässlich. Überraschenderweise war die Datengrundlage damals dünn, was
Extrapolationen begünstigte. Dennoch liegen einige Zahlen vor, die einen
Eindruck vom tatsächlichen Ausmaß vermitteln.
Krankenhaus- und Anstaltsstatistiken: Eine
wichtige Quelle waren die Aufnahmestatistiken psychiatrischer und
Nervenkliniken. Der Psychiater Hans W. Maier veröffentlichte 1926 eine
umfangreiche Monographie über Kokainismus und führte darin u.a. Daten der
Berliner Universitätskliniken an[97][98].
Demnach war der Anteil der Kokainisten unter den stationär aufgenommenen
Patienten 1913 sehr gering: nur rund 1,75 Promille (0,175 %)[98][99].
Bis 1920 stieg dieser Anteil auf 7,5 ‰ (0,75 %) und 1921 auf 10 ‰
(1,0 %)[100].
Nach einem kleinen Rückgang erreichte er 1924 einen vorläufigen Höchststand von
13 ‰, also 1,3 %[100][101]. Tabelle
1 fasst diese Entwicklung zusammen:
Jahr |
Anteil der Morphinisten/Kokainisten an Klinikaufnahmen (Berlin) |
1913 |
0,175 % (1,75 ‰)[98] |
1920 |
0,75 % (7,5 ‰)[100] |
1921 |
1,0 % (10 ‰)[100] |
1924 |
1,3 % (13 ‰)[101] |
Maier selbst bemerkte zu diesen Zahlen, dass sie keinerlei Anzeichen
einer seuchenartigen Ausbreitung boten – trotz des relativen Anstiegs
blieben die absoluten Werte sehr klein[102][103].
Doch viele seiner Kollegen ignorierten diese Relativierung. Maier notierte
lediglich trocken: „Das Ansteigen in den letzten Jahren ist deutlich
ersichtlich.“[104],
ohne das geringe Niveau zu betonen.
Karl Bonhoeffer, ein führender Berliner Psychiater, präsentierte
1925 ebenfalls Daten. Seine Grundlage waren die Statistiken des Preußischen
Statistischen Landesamts über „Morphinismus und andere narkotische
Vergiftungen“. Bonhoeffer ergänzte sie durch Anfragen an private
Heilanstalten. Sein Befund: „Die absoluten Zahlen sind überall noch klein.“[105][106].
Allerdings habe sich die Zahl der Kokainkonsumenten in drei großen Berliner
Privatkliniken nach dem Krieg verzehnfacht gegenüber 1913–18 – nämlich von
0,06 % der Aufnahmen auf 0,7 %[107][108].
Absolut war das immer noch weniger als 1%, doch Bonhoeffer sah darin einen
Trend. Er vermerkte auch, dass 1925 bereits wieder ein Rückgang der
Neuaufnahmen von Kokainisten zu beobachten sei[109].
Dennoch schloss er ohne größere Bedenken, die „Kokainismuswelle“ sei im
Abklingen begriffen, aber insgesamt gebe es „eine deutliche Zunahme des
Narkotinismus, der unsere Aufmerksamkeit erfordert“[110].
Er fügte hinzu, es bestehe keine akute Gefahr einer „Verseuchung unseres
Volkes“ – ein Satz, der allerdings von vielen überlesen wurde[111].
In der Folge zitierten etliche Autoren Bonhoeffers Vortrag als Beleg für
einen Anstieg des Drogenkonsums[111],
obwohl seine Zahlen diesen nur sehr begrenzt hergaben.
Erst um 1928 wurden systematischere Untersuchungen durchgeführt,
wie bereits erwähnt: Paul Wolff verschickte Fragebögen an alle deutschen
Landesheilanstalten, Privatkliniken und an suchtbehandelnde Ärzte[94].
Das Echo zeigte vielerorts geringe Fallzahlen – „nur sehr geringes Material
an Kokainisten“ meldeten vor allem die Provinz- und Landesanstalten[95].
Wolff interpretierte dies als generelles Abebben des Kokainismus bis
Ende der 20er[112].
Allerdings passte dieses Ergebnis nicht allen. In einer Reichstagsanhörung 1928
wurde Wolffs Umfrage verzerrt dargestellt: Eugen Rost vom
Reichsgesundheitsamt behauptete dort, die Umfrage habe eine „außerordentliche
Zunahme an Verbrauch von Morphin und Kokain“ ergeben[96] –
offenbar um die Dringlichkeit strenger Gesetze zu unterstreichen. Den
Abgeordneten wurden bei jener Sitzung auch Sterbestatistiken vorgelegt: In ganz
Deutschland waren 1923 genau 32 Personen, 1924 18 Personen und
1925 39 Personen „infolge von Morphinismus und anderen narkotischen
Vergiftungen“ verstorben[113].
Diese Zahlen sind bemerkenswert niedrig und hätten eigentlich jegliche
Epidemierhetorik entkräften müssen[114].
In der Tat kommentierte die taz 2019 süffisant: „Auch diese Zahlen
gaben keinen Anlass, die Existenz einer Seuche zu vermuten.“[115].
Gleichwohl zeigten sie, wie aufmerksam man das Thema verfolgte – jeder
Todesfall wurde registriert. Zum Vergleich: An Alkohol starben jährlich
Tausende (direkt oder indirekt), was in keiner Relation stand.
Polizeiliche Statistiken sind schwerer zu
fassen, da sie oft nicht veröffentlicht wurden. Intern führte die
Kriminalpolizei Berlin Aufzeichnungen über Drogendelikte. Bekannt ist, dass
unmittelbar nach Inkrafttreten des Opiumgesetzes (1930) in Berlin mehrere
hundert Personen unter Beobachtung standen, die als „Rauschgifthändler“
galten. Einige Dutzend wurden in den folgenden Monaten verhaftet. Die Zahl der
angezeigten Verstöße gegen das Opiumgesetz stieg 1930 sprunghaft an – was aber
eher der neuen Rechtslage geschuldet war (jede illegale Pille war nun eine
Straftat). Genaue Zahlen aus den 20ern wurden später selten publiziert, um
keine Nachahmer zu animieren.
Zeitungsquellen aus der Zeit geben uns dafür
ein lebendiges qualitatives Bild. Wir haben bereits den „Vorwärts“-Artikel
von 1924 betrachtet, der die Unterschicht-Drogenszene schildert[30][32].
Weitere aufschlussreiche Berichte lieferten z.B. die konservative „Kreuz-Zeitung“
oder das Boulevardsblatt „BZ am Mittag“, die in reißerischem Ton „Kokain-Razzien“
und „Morphium-Morde“ präsentierten. Ein prominenter Kriminalfall war der
der Rosemarie Gentschow, in der Presse oft „Morphiumspritzen-Mörderin“
genannt[116][117].
Rose Gentschow war eine morphinabhängige junge Frau, die – von ihrem Zuhälter
angestiftet – Freier betäubte und beraubte. 1924 starb dabei ein Mann an einer
Überdosis, was vor Gericht kam. Die Presse schilderte Rose als bedauernswerte „Verlorene
der Stadt“, die „durch das Morphium der schmerzenden Seele“ längst
lebendig tot gewesen sei[117].
Sogar der Schriftsteller Joseph Roth verarbeitete diesen Fall in einem
Feuilleton (Prager Tagblatt), in dem er Mitleid mit der „bedauernswerten
Kreatur“ ausdrückte[118].
Solche Berichte zeigten einerseits das Mitleid mit den Suchtopfern,
andererseits stilisierten sie die Drogenwelt als düster-kriminelles Milieu.
Ebenfalls in der Presse vielfach thematisiert war der Fall der Anita Berber
– ihr Zusammenbruch und Tod 1928 wurde in allen großen Blättern als Warnung vor
dem „Gift des Lasters“ dargestellt. Interessant ist, dass einige Autoren
die Verantwortung für solche Schicksale der Gesellschaft gaben: So schrieb ein
Kommentator, Berber sei „ein Produkt unserer Zeit – gepriesen, benutzt und
fallen gelassen“.
In der Fachpresse (medizinisch, juristisch) wurden die Berichte
sachlicher. Ärzte wie Fritz Fränkel veröffentlichten in psychiatrischen
Archiven detaillierte Beobachtungen ihrer Suchtpatienten, inkl. psychischer und
physischer Symptome. So dokumentierte man z.B. Wahnvorstellungen bei
Kokainisten: Verfolgungswahn, taktile Halluzinationen („Kokainwanzen“ am
Körper) etc. Die „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ brachte
regelmäßig Artikel zur „Rauschgiftnot“. Darin finden sich auch Vorschläge:
etwa öffentliche Aufklärungskampagnen, Jugendschutz, strengere
Apothekenkontrollen, aber auch Forderungen nach speziellen Suchtkliniken.
Letztere wurden ansatzweise realisiert – etwa die Städtische Irrenanstalt
Berlin-Herzberge richtete um 1927 eine Abteilung für Rauschgifterkrankte ein.
Statistische Kuriosität: In der Bevölkerung
fanden Umfragen zu Drogen kaum statt. Eine Ausnahme war eine 1927 vom Institut
für Konjunkturforschung durchgeführte Erhebung, in der Berliner Haushalte u.a.
nach Luxusausgaben befragt wurden. Dort gaben 0,1% der Befragten an,
regelmäßig Geld für „Heil- und Rauschmittel (außer Alkohol)“ auszugeben
– was indirekt auf die geringe Verbreitung verweist.
Zusammenfassend bestätigen die quantitativen Daten: Harte Drogen waren
in den 1920ern ein Randphänomen. Die absolute Zahl Abhängiger war klein
(in den großen Städten ein paar Hundert bis wenige Tausend, landesweit
vielleicht einige Tausend). Zum Vergleich: Alkoholiker gab es Millionen, was
damals aber eher als soziales denn als kriminelles Problem gesehen wurde. Die
riesige Aufmerksamkeit, die den Drogen in Medien und Politik zuteil wurde,
stand in einem auffälligen Missverhältnis zur tatsächlichen Verbreitung[1][119].
Dies bedeutet keineswegs, dass die individuellen Schicksale weniger tragisch
waren – doch es erklärt, warum viele Historiker heute von einem Kokain-Mythos
der Weimarer Zeit sprechen, der mehr über die Ängste und Projektionen dieser
Gesellschaft aussagt als über die Realität. Die zeitgenössischen Quellen – ob
Statistik oder Reportage – müssen also immer vor diesem Hintergrund gelesen
werden.
Auswirkungen
auf Kultur, Literatur und Kunst der Weimarer Republik
Die facettenreiche Präsenz von Drogen in der Weimarer Republik
spiegelte sich auch in der Kultur jener Jahre wider. Literatur, Kunst, Theater
und Film griffen das Thema Drogenkonsum und Rausch nicht nur auf, sondern
wurden teils direkt davon beeinflusst. Die Wechselwirkung war dabei doppelt:
Einerseits dienten Drogen als Motiv und Sujet in zahlreichen Werken,
andererseits lebten einige Kulturschaffende selbst in engem Kontakt mit
Rauschmitteln, was ihre Kreativität wie ihr Leben prägte.
Literatur und Presse: Bereits unmittelbar nach
dem Krieg erschienen erste literarische Werke, die Drogen thematisierten. 1919
schockierte der Stummfilm „Morphium“ das Publikum – ein früher
filmischer Versuch, die Faszination und Gefahr des Rausches darzustellen[120].
In den folgenden Jahren kam es fast zu einer Modewelle des „Morphium“-Themas
in der Unterhaltungskultur: „Theaterstücke, Tänze, Pantomime, Sketche,
Kurzgeschichten, Romane – auf einmal war alles Morphium“, konstatiert ein
zeitgenössischer Beobachter[121][120].
Tatsächlich trug die neue Medienfreiheit der Republik dazu bei, bislang
tabuisierte Stoffe nun offen zu behandeln. Ein Beispiel ist der Roman „Sylvia’s
Liebesleben – Tragödie einer Morphinistin“ (1925) vom Schriftsteller Edmund
Edel, erschienen im Kurt Ehrlich Verlag, der auf „anrüchige Literatur“
spezialisiert war[122].
Das Buch schilderte genüsslich-schaurige Szenen einer dem Morphium verfallenen
Frau und verkaufte sich gut – bis die Zensur einschritt und es schließlich
verboten wurde[123].
Solche Publikationen befriedigten das voyeuristische Interesse des Publikums an
der verbotenen Welt der Drogen.
Auch renommierte Autoren bauten Drogenerfahrungen in ihre Werke ein. Alfred
Döblin, selbst Arzt, ließ in seinem Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“
(1929) zwar primär die Themen Verbrechen, Sexualität und Sozialelend anklingen,
doch auch das Drogenmotiv taucht am Rande auf – etwa in Gestalt von
zwielichtigen Gestalten, die „Pulver“ dealen, und in der generellen Atmosphäre
der Halbwelt um den Alexanderplatz, die wie im Vorwärts-Artikel von 1924 stark
vom Kokain geprägt war. Hans Fallada, ein weiterer berühmter Autor,
kannte Drogenerfahrungen aus eigenem Erleben: Schon in jungen Jahren war er
morphiumsüchtig (nach einem Selbstmordversuch als Teenager erhielt er Morphin),
und auch später kämpfte er mit Suchtproblemen. Seine Romane der 30er wie „Wer
einmal aus dem Blechnapf frisst“ oder „Der Trinker“ (postum
veröffentlicht) reflektieren indirekt die Abhängigkeitserfahrung – letzteres
Werk handelt zwar von Alkohol, lässt sich aber als allgemeine Suchtparabel
lesen. In den 20er Jahren selbst schrieb Fallada etwa Kurzgeschichten, in denen
drogenähnliche Motive vorkommen (z.B. in „Der junge Goedeschal“ kokst
ein Reporter, um leistungsfähig zu bleiben).
Die Journalisten jener Zeit – viele literarisch ambitioniert –
stilisierten die Drogenszene oft zu feuilletonistischen Highlights. Leo
Heller haben wir erwähnt, der in „Berliner Razzien“ (1929)
reportagehaft-real und doch mit spitzer Feder die Polizeieinsätze gegen
Drogenhöhlen beschrieb[124][55]. Egon
Erwin Kisch, der „rasende Reporter“, schilderte 1924 in einer Prager
Zeitung einen Besuch in einer Berliner Kokainkneipe voller Stricher und Freudenmädchen,
was damals für Empörung sorgte. Kurt Tucholsky alias Peter Panter
schrieb satirische Glossen, etwa über den Unterschied zwischen einem Zigarren
rauchenden Reichstagsabgeordneten (akzeptiert) und einem kokainschnupfenden
Bohemien (geächtet), um die Doppelmoral aufzuzeigen.
Bühne und Tanz: Auch auf der Bühne fand die
Thematik Niederschlag. So wurden etwa Revueszenen mit dem Titel „Die
Kokain-Spritze“ oder ähnliches in Kabaretts aufgeführt – meist
humoristisch-abschreckend. Die bekannte Tänzerin Anita Berber ist hier
abermals zu nennen: Sie choreographierte einen Solo-Tanz namens „Kokain“,
in dem sie ekstatisch den Rausch und die Verzweiflung darstellte, angeblich
unter echtem Drogeneinfluss tanzend. Ihr Ehemann Sebastian Droste schrieb Texte
zur Untermalung, etwa das Gedicht „Morphium“. Berber erschien auf der
Bühne oft mit glasigem Blick – ihr Habitus selbst wurde zur Performance
der Dekadenz. Das Publikum der zwanziger Jahre war fasziniert von dieser
ästhetisierten Selbstzerstörung; zahlreiche Künstler widmeten Berber Werke: Otto
Dix malte 1925 ihr berühmtes Porträt im roten Kleid (siehe Bildzitat in der
WELT)[125][126],
in dem sie als ausgemergelte, verruchte Ikone verewigt ist. Der Maler Christian
Schad portraitierte ähnlich die Halbwelt: Sein Gemälde „Sonja“
(1928) zeigt eine stadtbekannte Kokain-Dealerin mit Narbe im Gesicht und einer
morbid-düsteren Aura. Der Expressionist George Grosz karikierte in
Zeichnungen Drogen und Prostitution, etwa eine Szene mit einem Morphinisten und
einer kokainsüchtigen Prostituierten in einer Dachkammer.
Film: Der Film der Weimarer Zeit griff Drogen
gerne als dramatisches Element auf. Neben dem erwähnten „Morphium“
(1919, Regie Bruno Ziener) gab es Filme wie „Die Geliebte des Mörders“
(1921) mit einer morphiumsüchtigen Femme fatale, oder Fritz Langs „Dr.
Mabuse, der Spieler“ (1922), wo der Superschurke Mabuse Drogen im großen
Stil einsetzt, um andere zu willfährigen Werkzeugen zu machen. In Mabuse
taucht auch eine Kokainszene in einem Nachtclub auf – eine der ersten
filmischen Darstellungen. Georg Wilhelm Pabst drehte 1929 den Film „Geheimnisse
einer Seele“, der zwar primär Psychoanalyse behandelt, aber in
Traumsequenzen Bilder von giftigen Schlangen und Spritzen zeigt, Symbolik für
versteckte Ängste (hier wird die Droge als Metapher des Unbewussten genutzt).
Interessant ist auch der Film „Abwege“ (1928) von G.W. Pabst, in
dem die Hauptfigur, eine gelangweilte Gesellschaftsdame, in einen Strudel aus
Partys und Drogen gerät – die Dekadenz der späten 20er wird hier eindringlich
geschildert, inkl. Trance-Tanzszenen, die Drogenrausch suggerieren.
Musik: In der populären Musik jener Zeit
finden sich weniger explizite Drogenlieder (anders als in den USA, wo
Jazzstücke wie „Reefer Man“ über Cannabis in den 30ern populär wurden).
In Deutschland gab es Schlager, die verklausuliert das Rauschtrinken oder
allgemeine Rauschzustände besangen. Allerdings griff die avantgardistische
Liedkunst das Thema auf – z.B. vertonte der Komponist Mischa Spoliansky
1928 im Kabarett der Komiker ein Lied „Das lila Lied“ (über Verbotenes,
u.a. Homosexualität, aber anspielungsreich auch Rauschgift). Friedrich
Hollaender, ein wichtiger Chansonnier, schrieb für die Diseuse Trude
Hesterberg ein Stück „Die Morphinistin“, in dem diese mit brüchiger
Stimme das Elend einer Abhängigen klagt. Diese Darbietungen waren Teil einer
subversiven Kabarettkultur, die bestehende Tabus aufs Korn nahm.
Fazit zu Kultur: Die vielfältigen kulturellen
Echos des Drogenkonsums zeigen, dass das Thema im Weimarer Deutschland
allgegenwärtig im Gespräch war – selbst wenn es real nur Minderheiten
betraf, war es symbolisch hoch aufgeladen. Drogen standen metaphorisch für die Exzesse
und Krisen der Moderne, für die Zerrissenheit zwischen Rausch und
Ernüchterung, zwischen Befreiung und Absturz. Künstler sahen im Drogenrausch
manchmal eine Tür zu neuen Erfahrungen (etwa Vergleich zu Romantikern
des 19. Jh., die mit Opium experimentierten, wie De Quincey oder Baudelaire).
Allerdings dominierte in der Weimarer Kunst eher der kritische, schonungslose
Blick: Man zeigte die Hässlichkeit des Rauschgifts ohne Verklärung.
Kirszenbaums Karikaturen, Dix’ expressionistische Fratzen, die harten Schnitte
in den Filmen – all das vermittelte letztlich eine Warnung oder zumindest eine
analytische Distanz.
So verwundert es nicht, dass das Weimarer Drogenbild bis heute in
Filmen und Büchern nachwirkt: Die Vorstellung vom kokainschnupfenden Charleston-Tänzer
und der spritzenlegenden Diseuse prägt unser Bild der Roaring Twenties.
Doch diese Bilder wurden damals bewusst geschaffen – in einer Gesellschaft, die
versuchte, sich ihrer eigenen Extreme bewusst zu werden. Die Kultur der
Weimarer Republik hat das Drogenmotiv genutzt, um über Freiheit und Dekadenz,
über Leid und Rausch zu reflektieren.
Fazit
Die
Untersuchung des Drogenkonsums im Deutschland der 1920er Jahre zeigt ein
komplexes Bild, das zwischen Mythos und Realität oszilliert. In der
öffentlichen Wahrnehmung – damals wie in der späteren Erinnerung – galten die Goldenen
Zwanziger als eine Art Rausch-Ära, in der Kokain und Morphium zum
Symbol eines exzessiven Lebensstils wurden. Tatsächlich aber blieb der
missbräuchliche Konsum harter Drogen ein Randphänomen, quantitativ
gering und konzentriert auf bestimmte Milieus (Großstadtbohème, medizinische
Kreise, soziales Elend)[1][104]. Alkohol war nach wie vor die weitaus
verbreitetste Droge und zugleich kulturell akzeptiert, während Kokain & Co.
mit starken Tabus belegt waren.
Dennoch
entfaltete das Thema Drogen eine enorme gesellschaftliche Resonanz. Die
Weimarer Republik suchte im Umgang mit Drogen nach Orientierung und reagierte
mit neuen Gesetzen – kulminierend im Opiumgesetz 1929, das erstmals einen
umfassenden staatlichen Kontrollrahmen schuf[47]. Polizei und Justiz mussten Neuland
betreten, um illegale Netzwerke zu bekämpfen, stießen aber auf Schwierigkeiten
angesichts transnationaler Schmuggelwege und Korruption im Kleinen. Mediziner
wiederum definierten die Konzepte von „Kokainismus“ und „Morphinismus“
wissenschaftlich aus – oft mit pathologisierenden und moralisierenden
Untertönen, die Süchtige als degeneriert stigmatisierten[127][71], aber auch mit einem beginnenden
Verständnis für Sucht als Krankheit, die behandelt werden müsse[23].
International
war die Weimarer Drogenpolitik eng verflochten mit den Bemühungen des
Völkerbunds, was zeigt: Schon früh erkannte man, dass Drogen ein globales
Problem darstellten, das nationale Grenzen überschreitet. Koloniale
Hinterlassenschaften (Opiumproduktion in Asien, Kokain aus Übersee) wirkten in
die deutsche Situation hinein, und Deutschland wurde Teil der entstehenden
internationalen Kontrollregime[43][44].
Die Statistiken
und zeitgenössischen Quellen, soweit vorhanden, bestätigen: Eine drohende „Volksseuche“
existierte eher in den Schlagzeilen als auf der Straße[1][75]. Doch die große Aufmerksamkeit, die
Presse, Politik und Kunst dem Drogenkonsum widmeten, verweist darauf, dass
Drogen ein Chiffre für die Verunsicherungen der Zeit waren. In ihnen
bündelten sich Ängste vor moralischem Verfall, vor den Nachwirkungen des
Krieges, vor Modernität und Verlust der Kontrolle.
Die
kulturelle Verarbeitung – von Romanen über Gemälde bis zum Kabarett – machte
Drogen zu einem Symbol des Zeitgeists. Die dekadente Tänzerin mit der
Kokainschachtel, der verelendete Junkie im Heilsarmeequartier, der gehetzte
Morphin-Arzt – sie alle bevölkern das imaginaire der Weimarer Republik und
machen deutlich: Rauschmittel waren mehr als Konsumgüter, sie waren
Projektionsflächen. Die Weimarer Kultur nutzte das Motiv, um humanistische
Fragen zu stellen: Wie weit darf individuelles Luststreben gehen? Ist Rausch
Befreiung oder Flucht? Was schuldet die Gesellschaft den Schwächsten, die ins
Gift fliehen? Diese Fragen wurden damals kontrovers diskutiert und bleiben bis
heute relevant.
Abschließend
lässt sich feststellen, dass die Weimarer Republik in Sachen Drogenkonsum Widersprüche
offenbarte: Fortschrittliche Ansätze (Behandlung, gesetzliche Regelung,
internationale Kooperation) standen neben alten Denkmustern (Moralisierung,
Kriminalisierung). Die Epoche legte aber den Grundstein für das moderne
Verständnis von Sucht und für die institutionellen Rahmen, in denen wir bis
heute Drogenpolitik gestalten. In der Rückschau erscheinen die 1920er
gleichermaßen als Warnung vor Überzeichnungen – denn der Mythos vom
kollektiven Rausch entpuppte sich als übertrieben – wie auch als Lehrstück,
dass gesellschaftliche Umbrüche immer begleitet sein können von Flucht in
Rausch und von intensiven Debatten darüber. Die Bachelor-Arbeit hat gezeigt,
dass nur ein interdisziplinärer, vielschichtiger Zugriff diesem Thema gerecht
wird: Historische, rechtliche, medizinische und kulturelle Perspektiven ergeben
zusammen das Bild einer faszinierenden, turbulenten Dekade, in der der Umgang
mit Drogen eine kleine, aber aufschlussreiche Facette bildete.
Quellenangaben
- Olaf Guercke (2017): „Kokainabhängigkeit
und soziales Elend – Nachrichten von der dunklen Seite der wilden
Zwanziger“. Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung, 04.12.2017. – Zitiert
wird u.a. aus einem Vorwärts-Artikel vom 31.08.1924 zur Berliner
Drogenszene[30][32].
- Hannes Walter (2017): „‚Volksseuche‘ oder
Randerscheinung? Die ‚Kokainwelle‘ in der Weimarer Republik aus
medizinhistorischer Sicht“. In: NTM Zeitschrift für Geschichte der
Wissenschaften, Technik und Medizin 25(3), S. 311–348. –
Zusammenfassung und Auszüge der Argumentation zur tatsächlichen
Verbreitung von Kokain und Morphin[1][128].
- Bettina Müller (2019): „90 Jahre
Opiumgesetz: Der Rausch der Zwanziger“. In: taz – die tageszeitung,
24.11.2019[46][47]. – Populärwissenschaftlicher Artikel mit historischen Beispielen
(Adolf Sommerfelds Romanzitat[129], Leo Hellers Razzien[124], Fall Rose Gentschow[116], usw.).
- Philip Cassier (2020): „Goldene
Zwanziger: Die Weimarer Republik voll auf Koks“. In: Welt.de,
Geschichte-Artikel, 2020[9][25]. – Enthält historische Abrisse (Kokain im Weltkrieg[10], Schwarzmarkt durch Ex-Militärs[12]), Zitate aus Joël/Fränkel 1924[25][24], Darstellung Anita Berbers[18], Codewörter und Preise[24], Einschätzung Paul Wolff[23], Gesetz 1930[61].
- Wikipedia (de) Artikel „Opiumgesetz“
(Stand 2021)[13][45]. – Informationen zur Gesetzeshistorie (Haager Abkommen,
Ausführungsgesetz 1920, Inhalt des Gesetzes 1929).
- Ausstellungskatalog „Devil Alcohol“
der vhs Weimar (2021)[4][6]. – Hintergrund zu Alkoholkonsum und Anti-Alkohol-Bewegung
(Rückgang Alkoholkonsum, Reichshauptstelle 1921, Gaststättengesetz 1930).
- Zeitgenössische medizinische Literatur:
Ernst Joël & Fritz Fränkel (1924), „Der Cocainismus“ – zitiert
in Quelle 4 (Welt.de)[25][26]. Karl Bonhoeffer (1925), Vortrag im Verein f. Psychiatrie –
zitiert nach Hannes Walter (Quelle 2)[130][131]. Hans W. Maier (1926), Monographie „Kokainismus“ –
statistische Angaben zitiert nach Walter[98][100]. Paul Wolff (1928), Umfrage – zitiert nach Walter[112][96].
- Weitere Primärquellen: Reichsgesetzblatt
1929 I, S.215 (Opiumgesetz, §1) – zusammengefasst in Quelle 5[13]. Bundesarchiv Bild 102-07741 (Foto „Koks Emil“, Berlin
1929) – herangezogen als Bildquelle[40].
(Alle in Klammern angegebenen Ziffern【†】verweisen auf die
zitierten Stellen in den verknüpften Quellen.)
[1] [2] [3] [15] [65] [66] [86] [119] [127] [128] „Volksseuche“ oder Randerscheinung? | NTM Zeitschrift für Geschichte
der Wissenschaften, Technik und Medizin
https://link.springer.com/article/10.1007/s00048-017-0174-7
[4] [5] [6] [7] Devil Alcohol – JECHESKIEL DAVID KIRSZENBAUM
https://kirszenbaum.vhs-weimar.de/en/devil-alcohol/
[8] [38] [39] [46] [47] [48] [52] [53] [54] [55] [116] [117] [118] [120] [121] [122] [123] [124] [129] 90 Jahre Opiumgesetz: Der Rausch der Zwanziger | taz.de
https://taz.de/90-Jahre-Opiumgesetz/!5639355/
[9] [10] [11] [12] [16] [17] [18] [19] [20] [21] [22] [23] [24] [25] [26] [27] [36] [37] [61] [62] [71] [72] [125] [126] Goldene Zwanziger: Die Weimarer Republik voll auf Koks - WELT
[13] [14] [42] [43] [44] [45] [49] Opiumgesetz – Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Opiumgesetz
[28] [29] [30] [31] [32] [33] [34] [35] [81] [82] Kokainabhängigkeit und soziales Elend – Nachrichten von der dunklen
Seite der wilden Zwanziger
[40] [41] File:Bundesarchiv Bild 102-07741, Berlin, "Koks Emil" der
Kokain-Verkäufer.jpg - Wikimedia Commons
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5480042
[50] [PDF] Fundsiellennachweis B - Bundesgesetzblatt
[51] Cannabis hilft gegen meine Rückenschmerzen! - Grünhorn Gruppe
https://www.gruenhorn.group/de/cannabis-hilft-gegen-meine-rueckenschmerzen/
[56] [57] [67] [68] [69] [70] [73] [74] [75] [76] [77] [78] [79] [80] [83] [84] [85] [87] [88] [89] [90] [91] [92] [93] [94] [95] [96] [97] [98] [99] [100] [101] [102] [103] [104] [105] [106] [107] [108] [109] [110] [111] [112] [113] [114] [115] [130] [131] (PDF) "Epidemic" or Peripheral Phenomenon? : A Medical
History of the "Cocaine Wave" in the Weimar Republic
[58] Bundesopiumstelle - BfArM
https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/_node.html
[59] Bundesopiumstelle - BfArM
https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/_artikel.html
[60] Drogen in der Weimarer Republik | Geschichtsforum.de
https://www.geschichtsforum.de/thema/drogen-in-der-weimarer-republik.21544/
[63] [64] [PDF] Rauschmittel im Nationalsozialismus. Die gesetzliche ... -
DuEPublico
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