Freitag, 17. Oktober 2025

Drogenkonsum im Deutschland der 1920er Jahre: Gesellschaftliche, rechtliche und medizinische Kontexte

Einleitung

Die 1920er Jahre in Deutschland – die Ära der Weimarer Republik – sind in der populären Vorstellung häufig mit Bildern von Rausch und Exzess verbunden. Insbesondere Berlin gilt als mythisches Zentrum eines hemmungslosen Nachtlebens, in dem Drogen wie Kokain und Morphium angeblich massenhaft konsumiert wurden. Doch wie verbreitet war der Drogenkonsum in der Weimarer Republik tatsächlich? Neuere historische Untersuchungen zeigen, dass die Annahme eines allgegenwärtigen Drogenmissbrauchs empirisch so nicht haltbar ist[1]. Zwar warnten Ärzte und Medien damals vor einer „Kokainwelle“, die die „Volksgesundheit“ bedrohe, doch fehlen belastbare Belege für einen signifikanten Anstieg des Kokainkonsums in den 1920er Jahren[1]. Vielmehr entstand ein Großteil der zeitgenössischen moral panic um Drogen durch spezifische Kontextfaktoren: der Nachkriegsgesellschaft, den damaligen medizinischen Theorien über Sucht und nicht zuletzt der Faszination und dem Schrecken, den das Thema in Öffentlichkeit und Kultur hervorrief[2][3].

Diese Arbeit unternimmt eine umfassende historische Analyse des Drogenkonsums im Deutschland der 1920er Jahre – von den gängigen Substanzen (Alkohol, Kokain, Morphium/Opium, Cannabis u.a.) über soziale Verbreitung und Konsumformen bis hin zu Gesetzgebung, medizinischen Aspekten und kulturellen Reflexionen. Behandelt werden zunächst die verschiedenen sozialen Milieus und Szenen, in denen Drogen konsumiert wurden, gefolgt von einer Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingungen und polizeilichen Maßnahmen jener Zeit. Es schließen sich Kapitel über die medizinische Nutzung einiger Drogen sowie über die gesellschaftliche Akzeptanz und moralischen Debatten an. Ein eigenes Kapitel widmet sich den internationalen Einflüssen – etwa durch den Völkerbund und globale Handelsströme – auf die deutsche Drogenpolitik. Zur Untermauerung der Analyse werden zeitgenössische Statistiken, medizinische Berichte und Zeitungsquellen herangezogen. Abschließend wird beleuchtet, wie sich der Drogenkonsum und die Diskussion darüber in Kultur, Literatur und Kunst der Weimarer Republik niederschlugen. Ein Fazit fasst die zentralen Erkenntnisse zusammen. Die Arbeit verfolgt einen wissenschaftlich-neutralen Ansatz und stützt sich auf aktuelle Forschung ebenso wie auf Quellenmaterial aus der Weimarer Zeit.



Formen des Konsums und Verbreitung in verschiedenen sozialen Milieus

Nach dem Ersten Weltkrieg trat in Deutschland eine vielfältige Rauschmittelkultur zutage, die sich je nach sozialem Umfeld stark unterschied. Alkohol blieb zwar die mit Abstand meistkonsumierte Droge und war gesellschaftlich verankert, doch veränderten sich Konsumgewohnheiten: Hyperinflation, Arbeitslosigkeit und hohe Steuern auf Spirituosen führten in den 1920ern zu einem Rückgang des Alkoholkonsums im Vergleich zum 19. Jahrhundert[4]. Gleichzeitig formierte sich aber eine aktive Anti-Alkohol-Bewegung. 1921 vereinigten sich in Berlin Abstinenzler und Gemäßigte in der Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus, um gegen den „Teufel Alkohol“ vorzugehen[5]. Radikale Forderungen nach einem vollständigen Alkoholverbot (analog zur US-Prohibition) fanden jedoch keine Mehrheit – wirtschaftliche Interessen und die Staatsfinanzen standen entgegen, sodass gesetzliche Initiativen zum Alkoholverbot scheiterten[6]. Lediglich moderate Einschränkungen wurden erlassen, etwa ein Verbot hochprozentiger Ausschank an Jugendliche durch das Gaststättengesetz von 1930[7]. Insgesamt blieb Alkohol in allen Bevölkerungsschichten präsent – vom Bier in der Arbeiterkneipe bis zum Sekt der Oberschicht – und seine gesellschaftliche Akzeptanz wurde in der Weimarer Republik kaum ernsthaft erschüttert.

Demgegenüber haftete dem Konsum harter Drogen wie Kokain, Morphium (umgangssprachlich „Morphium“ für Morphin) oder Heroin sowie Opium und neuartigen synthetischen Mitteln ein subversiver, exotischer Ruf an. Diese Substanzen gelangten in sehr unterschiedliche Milieus und erfüllten dort verschiedene Funktionen:

In der medizinischen Sphäre und bei Kriegsveteranen: Zahlreiche Verwundete des Ersten Weltkriegs waren auf starke Schmerzmittel wie Morphin angewiesen, was zur Entstehung einer beträchtlichen Zahl von Morphinabhängigen führte[8]. Ärzte hatten während des Krieges oft großzügig Morphium gespritzt, um die Schmerzen der Soldaten zu lindern, mit der Folge, dass viele nach Kriegsende süchtig blieben[8]. Im Umfeld von Lazaretten und Krankenhäusern der Nachkriegszeit entwickelte sich daher ein Kreis von „Morphinisten“, der nicht selten aus ehemaligen Sanitätern, Krankenschwestern oder traumatisierten Frontkämpfern bestand. Auch der stimulierende Kokain wurde im Krieg genutzt – Berichten zufolge setzten ihn einige Militärärzte ein, um die Leistungsfähigkeit der Soldaten zu steigern und Ängste vor der Schlacht zu betäuben[9][10]. Gegen Kriegsende 1918 waren die Depots der Armee regelrecht voll mit Kokain, während Alkohol knapp war[11]. Ehemalige Militärangehörige schufen aus diesen Beständen bald einen Schwarzmarkt, um den massenhaften Bedarf im gebeutelten Nachkriegsdeutschland zu bedienen[12]. Viele Kriegsheimkehrer litten an körperlichen und seelischen Schmerzen – sei es aufgrund erlittener Verletzungen oder traumatischer Erlebnisse – und suchten im Morphium oder Opium Linderung. Das berühmte Fernsehserien-Beispiel „Babylon Berlin“ zeigt den fiktiven Kommissar Gereon Rath, der in den 1920ern in Berliner Apotheken regelmäßig sein „Mittelchen“ gegen Kriegszittern und Trauma holt[8] – ein Szenario, das durchaus reale Grundlage hat. So wurde Heroin (Diacetylmorphin, ein Morphinderivat) seit seiner Einführung durch Bayer 1898 zunächst als vermeintlich nicht süchtig machendes Hustenmittel vermarktet; in der Weimarer Zeit war es zwar bereits als suchterzeugend erkannt, aber weiterhin legal auf Rezept erhältlich[13][14]. Viele Schmerzpatienten, ob Kriegsversehrte oder andere chronisch Kranke, erhielten in den 1920ern Opioide (Morphin, Heroin, Codein) oder Kokain zu therapeutischen Zwecken – nicht selten mit dem Ergebnis, dass medizinischer Gebrauch in Abhängigkeit umschlug. Dieses medizinisch-induzierte Drogenmilieu – Ärzte, Pfleger und Patienten – war laut neueren Forschungen tatsächlich eine der Hauptgruppen der Drogenabhängigen, weit mehr als die Bohème[15][3].

Im großstädtischen Nachtleben (Bohème und Halbwelt): Berlins legendäre Vergnügungskultur der Goldenen Zwanziger bot den Nährboden für einen anderen Typus des Drogenkonsums. In den Bars, Cabarets und Clubs zwischen Friedrichstraße und Kurfürstendamm mischten sich Künstler, wohlhabende Bürger und zwielichtige Gestalten; hier zirkulierte Kokain als Modedroge der eleganten Dekadenz[16][17]. Bekannte Tänzerinnen und Entertainer wie Anita Berber verkörperten diesen Milieu-Typus: Die skandalumwitterte Nackttänzerin betäubte sich vor ihren Auftritten im Wintergarten, der Rakete oder dem Toppkeller am Kurfürstendamm mit Kokain, Morphium und Cognac[18][19]. Berber inszenierte das Laster sogar künstlerisch – einer ihrer Tänze hieß provokant „Kokain“ – und ihr exzessiver Konsum wurde Teil ihres öffentlichen Images. Zeitzeugen beschrieben sie als „dämonische Frau“, verdorben bis ins Mark[20]. Ihr früher Tod 1928 mit nur 29 Jahren (offiziell an Tuberkulose, mitverursacht durch ihren Drogenmissbrauch) ging als warnendes Beispiel durch die Presse[21]. Figuren wie Anita Berber, die als Kokain-Ikone der Weimarer Zeit galt, und andere Prominente aus der Künstler- und Society-Szene sorgten für starke öffentliche Aufmerksamkeit[22][23]. In diesen Kreisen wurde Kokain gerne in Gesellschaft konsumiert – zu später Stunde in Nachtclubs oder privaten Salons. Die Süchtigen selbst prägten einen Jargon: Kokain hieß im Szene-Slang „Koks“, und die depressive Verstimmung nach dem Rausch wurde verharmlosend „die Reaktion“ genannt[24]. Wie Ernst Joël und Fritz Fränkel 1924 in ihrem Buch „Der Cocainismus“ schilderten, nahm der typische städtische Kokainist sein Pulvergeschnupfe „im Kreise gleichgesinnter Kameraden“ in Lokalen, wo er vom Personal und den Dealern gut gekannt war[25]. In den vornehmen Etablissements gehörte Kokain bald zum offen zelebrierten Luxusgut: „Dort, wo fast jeder seine Cocainbüchse bei sich trägt,“ beobachteten Joël und Fränkel, „bestellt man sich eine Prise kaum anders als ein Glas Kognak“[26]. Die Botschaft dieser zur Schau gestellten Routine lautete: Seht her, wir können es uns leisten und niemand kann es uns verbieten! Der Drogenkonsum avancierte damit in Teilen der Großstadt-Bohème zu einem Statussymbol, das Noblesse und schockierende Verruchtheit zugleich ausdrückte[27]. Allerdings war diese glamouröse Kokainszene zahlenmäßig überschaubar und konzentrierte sich auf bestimmte Hotspots der Hauptstadt; in kleineren Städten oder ländlichen Regionen blieb ein solcher Lifestyle-Drogenkonsum nahezu unbekannt.

Im kriminellen Milieu und der Unterschicht: Weniger im Licht der Öffentlichkeit spielten sich Drogenverkehre am unteren Rand der Gesellschaft ab. Eine bemerkenswerte zeitgenössische Reportage im sozialdemokratischen „Vorwärts“ (August 1924) zeichnete ein drastisches Bild der urbanen Kokain-Subkultur in Berlin jenseits der glitzernden Partyszene[28][29]. Demnach existierte rund um den Alexanderplatz eine Drogenszene in Obdachlosenasylen und Elendskneipen. Kokain erschien hier nicht als Party-Droge der Bohème, sondern als Droge der Verzweifelten: „für die Bettler, Obdachlosen und Kleinkriminellen“, für die entwurzelten und verarmten Teile der Nachkriegsgesellschaft[30]. Diese Konsumenten – viele durch den Krieg aus der Bahn geworfen, ohne Wohnung, Arbeit, Brot und Hoffnung – griffen zum „Pulver“, um ihre trostlose Lage auszuhalten[31]. „Kokain hilft ihnen zunächst, ihre Perspektivlosigkeit und ihr Elend zu ertragen,“ so der Bericht, „stürzt sie dann jedoch nur noch tiefer ins Unglück.“ Schließlich brächten die „vier Kardinalübel eines Verlorenen: Wohnungslos, Arbeitslos, Brotlos, Hoffnungslos“ ein fünftes Übel hervor – das „Betäubungselend“[32][33]. Die Beschreibung deckt sich frappierend mit Phänomenen, die man heute aus offenen Drogenszenen kennt: Kleinhandel unter Abhängigen, Beschaffungskriminalität und Prostitution zur Finanzierung der Sucht[34]. Kokain war in diesem Milieu das Fluchtmittel der Ärmsten, eine kurzfristige Linderung von Hunger, Kälte und seelischem Schmerz – erkauft um den Preis eines Teufelskreises sich verschlimmernder Abhängigkeit. Bemerkenswert ist, dass das Wort „Kokolores“ damals im Berliner Slang als Bezeichnung für den Kater nach einem Kokainrausch diente, also für die Unsinnigkeit und depressive Wirrnis, die dem kurzen Höhenflug folgt[35] (heute bedeutet Kokolores nur noch „Quatsch“). Die Existenz dieser versteckten Drogenwelt unter den sozial Deklassierten widerlegt das Klischee, Drogenkonsum der 20er sei nur ein vergnügtes Laster der Reichen gewesen – vielmehr hatte er oft seine Wurzeln in bitterer sozialer Not.

Cannabis und andere Substanzen: Cannabis (Haschisch/Hanf) spielte im Vergleich zu Opium, Kokain oder Morphin in der Weimarer Republik eine marginale Rolle. Zwar war indischer Hanf durchaus als Rausch- und Heilmittel bekannt (Cannabis-Präparate wurden im 19. Jahrhundert zeitweilig als Schmerz- oder Schlafmittel verwendet), aber in den 1920ern gab es in Deutschland keine nennenswerte Cannabis-Konsumentenszene. Der Stoff galt eher als exotisch – vielleicht rauchten einige Künstler oder Reisende gelegentlich Haschisch in kleinen Zirkeln, und in Hafenstädten wie Hamburg könnte es durch Seeleute oder orientalische Einwanderer vereinzelt konsumiert worden sein. Breite Bevölkerungsschichten blieben davon unberührt. Dies mag mit erklären, warum Cannabis ohne großes Aufheben 1929/30 in die höchste Kontrollstufe des Opiumgesetzes aufgenommen wurde[13][14] (siehe Kapitel Gesetzgebung), obwohl keine akute Haschisch-Epidemie vorlag. Neben Cannabis gab es noch andere gängige Rauschmittel der Zeit: Schlafmittel wie Veronal (Barbital) und andere Barbiturate wurden ab den 1900ern populär und auch in den 20ern rege verschrieben – woraufhin manche Patienten davon abhängig wurden. Ebenso waren Äther oder Chloroform gelegentlich Missbrauchsobjekte (Ätherschnüffeln war etwa in Nachkriegs-Österreich ein Problem, in Deutschland aber weniger verbreitet). Nikotin und Koffein – also Zigaretten und Kaffee – seien der Vollständigkeit halber erwähnt: Beides erlebte in der Zwischenkriegszeit einen Boom und sind natürlich Rauschmittel, wurden aber kulturell nicht dem Drogenproblem zugerechnet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Drogenkonsum in den 1920er Jahren je nach sozialem Umfeld sehr unterschiedliche Gesichter hatte. Einerseits das Bild der glitzernden Nachtclubs, in denen Kokain unter Charleston-Klängen die ausgelassene Stimmung befeuerte, andererseits das Bild der stillen Elendsquartiere, wo dasselbe Kokain verzweifelten Gestalten das Überleben von Tag zu Tag erleichtern sollte. Dazwischen lag eine breite Zone von medizinisch und kriegsbedingt Abhängigen, von Kleinkriminellen und Gelegenheitskonsumenten. Die quantitative Verbreitung war insgesamt geringer, als die farbigen Zeitberichte vermuten lassen – insbesondere außerhalb Berlins blieb harter Drogenkonsum ein seltenes Phänomen. Doch die unterschiedlichen Szenen überschatteten sich teilweise: So verkehrte selbst in den schäbigsten Spelunken mitunter ein relativ wohlhabendes Publikum, wie Joël und Fränkel beobachteten[36][37], während zugleich in eleganten Bars der Halbwelt-Charakter (etwa durch anwesende Prostituierte und Kleinkriminelle) nie ganz fehlte. Die Drogenmilieus der Weimarer Zeit waren also heterogen und durchlässig – ein Spiegelbild der sozialen Spannungen und Umbrüche jener Jahre.

Gesetzgebung, staatliche Kontrolle und polizeiliche Maßnahmen

Die Weimarer Republik übernahm in Fragen der Drogenpolitik ein schwieriges Erbe des Kaiserreichs und des Weltkriegs. Bereits vor 1918 gab es erste Ansätze zur Kontrolle von Rauschgiften: Morphium etwa war bis 1901 in Deutschland frei verkäuflich, dann aber – angesichts zunehmender Abhängigkeitsfälle um die Jahrhundertwende – durch Reichstagsbeschluss nur noch gegen Rezept in Apotheken erhältlich[38][39]. Dieses frühe Morphin-Verbot für den freien Handel diente als erste drogenpolitische Maßnahme Deutschlands. Im Ersten Weltkrieg verschärfte sich das Problem jedoch: Die Militärverwaltung gab Morphium und Kokain in großem Umfang an Lazarette aus; gegen Ende des Krieges kam es vermehrt zu Diebstählen von Morphium aus Lazaretten und Apotheken[38]. Zudem florierte ein illegaler Handel mit beiden Substanzen, befeuert durch die nach Kriegsende unzureichende offizielle Versorgung der vielen Süchtigen. Die Polizei berichtete von professionellen Dealern – etwa dem legendären „Koks-Emil“ in Berlin –, die in den nächtlichen Straßen ihr Pulver anboten und ständig auf der Flucht vor der Polizei waren[40][41]. Bild 1 illustriert dies: Es zeigt den berüchtigten Straßenhändler „Koks Emil“ im Mai 1929 in Berlin bei seiner nächtlichen „Arbeit“. Er verkaufte Kokain in kleinen Kapseln für 5 Mark pro Prise – ein hoher Preis – und seine Kundschaft bestand laut Polizeibericht größtenteils aus Frauen der Halbwelt (Prostituierten). Ein Komplize („Spanner“) hielt im Hintergrund Wache und warnte durch Pfiffe vor nahenden Ordnungshütern[40].



Bild 1: Kokain-Straßenhandel im Berlin der späten 1920er Jahre – der als „Koks Emil“ berüchtigte Kokainverkäufer bietet 1929 nachts Passanten sein Rauschgift in kleinen Kapseln an. Eine Prise kostet 5 Mark. Seine Hauptkundschaft sind Frauen der Halbwelt (Prostituierte). Ein „Spanner“ (Komplice im Hintergrund) warnt ihn durch Pfiff vor dem Nahen der Polizei[40].

Angesichts solcher Zustände und des wachsenden öffentlichen Drucks suchte der Staat nach gesetzgeberischen Lösungen. Ein wichtiger äußerer Impuls kam dabei aus der internationalen Drogenpolitik: Das Deutsche Reich hatte 1912 an der Internationalen Opiumkonferenz in Den Haag teilgenommen, die erstmals verbindliche Regeln für den Umgang mit Opium und verwandten Drogen beschloss[42]. Das Kaiserreich ratifizierte die Haager Opiumkonvention jedoch zunächst nicht. Erst der Vertrag von Versailles 1919 zwang Deutschland in Artikel 295 zur Umsetzung dieser Abkommen[43]. Die junge Weimarer Republik erließ daraufhin – ziemlich verspätet – am 30. Dezember 1920 ein „Gesetz zur Ausführung des Internationalen Opiumabkommens von 1912“[44]. Dieses erste Opiumgesetz von 1920 hatte allerdings noch einen geringen Regelungsgehalt und ließ beträchtliche Lücken: Viele Opiumderivate und Kokain waren weiterhin leicht erhältlich, insbesondere für medizinische Zwecke[45]. So konnten Ärzte z.B. nach wie vor Heroin und Morphin auf Rezept verschreiben; die Kontrolle des tatsächlichen Verkehrs war lasch.

Erst Ende der 1920er kam es zu einer deutlich schärferen rechtlichen Regulierung. Nach mehreren vorbereitenden internationalen Konferenzen (u.a. einer Opiumkonferenz 1924/25 unter dem Völkerbund) verabschiedete der Reichstag im Dezember 1929 ein neues, umfassendes Opiumgesetz (Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln)[46]. Dieses trat am 10. Dezember 1929 in Kraft – nahezu 90 Jahre später bekannt als historisches Ereignis[46]. Das Opiumgesetz von 1929 listete in §1 Abs.1 explizit alle erfassten Substanzen auf: „Rohopium, medizinisches Opium, Morphin, Diacetylmorphin (Heroin), Kokablätter, Rohkokain, Kokain, Ekgonin sowie Indischer Hanf“ (Cannabis) und alle deren Salze[13]. Damit waren praktisch alle wichtigen natürlichen Rauschgifte und ihre Derivate erfasst. Diese Stoffe wurden fortan der Verschreibungspflicht unterstellt und durften nur noch zu medizinischen Zwecken legal erworben werden[45]. Ohne ärztliches Rezept war der Erwerb, Besitz und Handel nun strafbar. Gesetzesverstöße – etwa illegaler Handel – konnten mit Gefängnis bis zu 3 Jahren geahndet werden[47]. Bemerkenswert ist, dass mit diesem Gesetz erstmals auch Cannabis (bis dahin kaum verbreitet, wie erwähnt) in Deutschland faktisch verboten wurde[48][49]. Parallel zum Opiumgesetz erging wenig später (1930) eine Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, welche die Details der Rezeptpflicht und Buchführung regelte[50][51].

Die Polizei der Weimarer Republik stand vor der Herausforderung, die neuen Drogengesetze durchzusetzen – insbesondere in der Hauptstadt Berlin, die als Sorgenkind Nr.1 galt[52]. Schon zuvor hatte die Berliner Polizei mit Razzien versucht, der Szene Herr zu werden. Der Journalist Leo Heller, der gerne mit Beamten auf Streifzug ging, berichtet etwa von einer frühen 1920er-Razzia in einer „Kokainhöhle um die Ecke“: Blitzschnell wurde das Etablissement hochgenommen, zahlreiche Dealer und Konsumenten „kassiert“[53][54]. Heller schildert in seinem Buch „Berliner Razzien“ plastisch, wie die bleiche Pianistin mitten im Lied verstummt, als die Polizei einbricht – ein fast satirisches Panoptikum des lasterhaften Nachtlebens[55][54]. Doch trotz solcher Einsätze blieb die Drogenbekämpfung schwierig. Die illegale Einfuhr von Rauschgift war ein großes Problem – nach dem Krieg gelangten z.B. Rauschgift aus ehemals besetzten Gebieten oder über internationale Schmuggler nach Deutschland[56][57]. Einige inländische Pharmafabriken (etwa die Firma Merck in Darmstadt, ein früher Kokainproduzent) hatten während und nach dem Krieg große Bestände angehäuft; auch diese fanden teilweise ihren Weg auf den Schwarzmarkt[12]. Daneben, wie erwähnt, stammte viel Kokain aus Beständen der Armee und von ehemals militärischen Ärzten. Die Polizei registrierte zudem zahlreiche Diebstähle aus Apotheken und Krankenhäusern, insbesondere Morphin, das von Angestellten entwendet und weiterverkauft wurde[38]. Zur Koordination der legalen Verteilung richtete der Staat eine zentrale Stelle ein: die Opiumstelle Berlin beim Reichsgesundheitsamt überwachte ab den 1920ern den legalen Verkehr mit Betäubungsmitteln – vom Import der Rohstoffe bis zur Auslieferung an Apotheken[58]. Jede Apotheke erhielt in der Folge eine Erlaubnisnummer für den Umgang mit Betäubungsmitteln; dies war der Grundstein des bis heute praktizierten Apothekenkontrollsystems[59].

Trotz der neuen Gesetze und Kontrollen gelang es aber keineswegs, den Drogenkonsum schlagartig zu beenden. Viele Süchtige, insbesondere jene mit finanziellen Mitteln oder Beziehungen, setzten ihren Konsum fort – sie wichen etwa auf Auslandsquellen aus oder missbrauchten weiterhin ärztliche Rezepte. Die Polizei stieß auch auf Fälle echter ärztlicher Verschreibungen in auffällig hohen Mengen, etwa ein Arzt, der 100 Gramm reines Kokain verschrieb[60]. Diese Verschreibungsdelikte waren ein grauer Bereich, denn formal legal, doch oft offensichtlich zweckwidrig. Insgesamt blieb Berlin ein Brennpunkt: 1930, nach Inkrafttreten des Opiumgesetzes, hieß es lakonisch, „wer von den Süchtigen konnte, machte weiter wie bisher“[61]. Erst die Nationalsozialisten ab 1933 verschärften die Gangart nochmals massiv: Die neuen Machthaber erklärten dem „Rauschgift“ den offiziellen Krieg. Prominente Nazis wie Hermann Göring – selbst Morphinist – stilisierten die Drogenbekämpfung zum ideologischen Feldzug; der „deutsche Volkskörper“ müsse „rein gehalten“ werden, so die Rhetorik[62]. Unter diesem Vorzeichen wurden in den 1930ern Süchtige stärker verfolgt, zum Teil zwangsentwöhnt oder in geschlossenen Anstalten untergebracht (die NS-Drogenpolitik ist jedoch ein eigenes Thema jenseits des Betrachtungszeitraums). Wichtig ist: Das Opiumgesetz von 1929 blieb in seinen Grundzügen auch im „Dritten Reich“ und sogar bis weit nach 1945 in Kraft[63][64] – es bildete den Kern der deutschen Betäubungsmittelgesetzgebung, der erst 1972 mit dem modernen BtMG abgelöst wurde. Insofern legte die Weimarer Republik mit dieser Gesetzgebung einen nachhaltigen Rahmen für den staatlichen Umgang mit Drogen fest.

Zusammengefasst wandelte sich die rechtliche Situation von einer laxen Vorkriegs- und frühnachkriegszeitlichen Haltung (wo viele Substanzen frei oder leicht verfügbar waren) hin zu einer immer stringenteren Kontrolle Ende der 1920er. Die Polizei versuchte, mit Razzien und Überwachung der Verschreibungen gegenzusteuern, stieß aber oft an praktische Grenzen. Besonders deutlich zeigt sich an der Drogenpolitik auch ein Aspekt der Internationalisierung: Deutschland handelte nicht isoliert, sondern im Kontext der Abkommen des Völkerbundes und internationaler Erwartungen. Diese globalen Einflüsse werden im nächsten Abschnitt genauer betrachtet.

Medizinische Nutzung von Drogen im Kontext der Weimarer Republik

Viele der heute als Rauschgifte stigmatisierten Substanzen hatten in den 1920er Jahren ganz selbstverständliche medizinische Anwendungen. Morphium, Kokain, Heroin, Opium – sie alle galten ursprünglich als wertvolle Arzneimittel und waren in ärztlichen Kreisen durchaus etabliert. Die Weimarer Zeit bildet hier keine scharfe Zäsur, sondern vielmehr einen Übergang: Während einerseits der Bedarf an diesen Medikamenten nach dem Ersten Weltkrieg enorm gestiegen war (siehe oben: zahlreiche Verletzte und Traumatisierte), wuchs andererseits unter Medizinern die Erkenntnis, dass diese Mittel erhebliches Suchtpotential bergen und entsprechend vorsichtig eingesetzt werden müssen. Dieser Zwiespalt prägte die medizinische Drogenverwendung der 20er Jahre.

Morphium (Morphin) war das unverzichtbare Schmerzmittel für schwere Verletzungen. Nach 1918 gab es unzählige Amputationspatienten, chronische Schmerzkranke und Menschen mit Kriegsneurosen, denen Morphin Linderung verschaffte. Entsprechend verbreitet blieb Morphin in der ärztlichen Praxis: Es wurde in Krankenhäusern, Nervenkliniken und von Hausärzten verschrieben, oft auch über längere Zeiträume. Dadurch kam es zu vielen Fällen von Morphinismus, wie man die Abhängigkeit nannte. In psychiatrischen Fachkreisen war Morphinismus seit dem 19. Jahrhundert bekannt; in den 20ern betrachteten viele Mediziner die durch den Krieg ausgelöste Zunahme Morphinsüchtiger als ernstzunehmende Bedrohung für die Gesellschaft[65] – man sorgte sich, das „beste Menschenmaterial“ sei dem Rauschgift verfallen, wo doch der „Wiederaufstieg der Nation“ gesichert werden müsse[65]. Dennoch blieb Morphin als Arznei unentbehrlich. Manche Ärzte gerieten in einen Gewissenskonflikt: einerseits wollten sie Patienten nicht die nötige Schmerztherapie versagen, andererseits beobachteten sie die Entstehung von Süchten.

Heroin, ein Abkömmling des Morphins, war seit seiner Einführung durch Bayer (1898) in vielen Ländern verbreitet als starkes Analgetikum und Hustenmittel. In Deutschland war es bis Ende der 1920er ebenfalls rezeptfrei erhältlich – erst das Opiumgesetz 1929 machte Heroin strikt verschreibungspflichtig[45]. Zuvor konnten selbst Nichtmediziner Heroin in Apotheken unter Handelsnamen wie Diacetylmorphin oder Euphon kaufen. Heroin galt anfangs als „Wundermittel“ gegen hartnäckigen Husten und Tuberkulosebeschwerden. Zahlreiche zeitgenössische medizinische Berichte priesen seine effektive, beruhigende Wirkung. Allerdings zeigte sich rasch, dass Heroin noch süchtiger machen konnte als Morphin. In der Weimarer Republik wurde Heroin bereits kritisch gesehen; viele Ärzte vermieden es oder nutzten es sparsam. Gleichwohl fand es weiter Einsatz, insbesondere in der Linderung schwerster Schmerzen oder bei Sterbenskranken – Indikationen, die man als medizinisch vertretbar ansah. Dass Heroin süchtig machen kann, war einer breiteren Öffentlichkeit zwar bekannt, aber noch fehlte die heutige strikte Tabuisierung. So kam es vor, dass gesellschaftlich hochstehende Persönlichkeiten heroinabhängig waren, ohne dass dies unmittelbar als kriminell galt – man sprach eher von einer Krankheit. Ein Beispiel war etwa die Schriftstellerin Marie Luise Fleißer, die in den 20ern vorübergehend heroinabhängig war (allerdings im Zuge eines ärztlich verordneten Medikamentes).

Kokain hatte im medizinischen Bereich eine spezifische, legitime Nische: Seit der Entdeckung seiner lokalanästhetischen Eigenschaften (um 1884) wurde es vor allem in der Augenheilkunde und HNO-Heilkunde als örtliches Betäubungsmittel eingesetzt. Viele Operationen am Auge oder in der Zahnmedizin waren vor Erfindung synthetischer Anästhetika ohne Kokain kaum denkbar. In den 1920er Jahren war allerdings schon das Ersatzmittel Novocain (Procain) verfügbar, das ähnlich wirkte, aber weniger toxisch war – es wurde von Chemiker Alfred Einhorn 1905 entwickelt. Dennoch blieb Kokain in manchen Fällen Mittel der Wahl. Es existierten pharmazeutische Präparate, z.B. Kokaintropfen für kleinere Eingriffe. Außerhalb dieser Fachgebiete nutzten einige Ärzte Kokain auch systemisch: Als Stimulans bei Depressionen oder „Erschöpfungszuständen“ wurde Kokain gelegentlich verabreicht, in der Hoffnung, Antrieb und Stimmung zu heben. Solche Anwendungen waren umstritten und nahmen ab, je mehr die Abhängigkeitsgefahr ins Bewusstsein rückte. Dennoch finden sich in medizinischen Zeitschriften der frühen 20er Berichte, die Kokain bei Melancholie oder chronischer Müdigkeit erprobten – stets mit dem Risiko, dass der Patient kokainsüchtig wurde. Nicht zu vergessen: Auch Ärzte selbst experimentierten mit Kokain. Der berühmte Arzt Sigmund Freud hatte bekanntlich in den 1880ern Selbstversuche mit Kokain gemacht; in den 20ern gab es sicherlich ebenfalls Mediziner, die der Versuchung erlagen, die Aufputschwirkung des Kokains an sich selbst auszukosten. Tatsächlich zeigen historische Quellen, dass gerade Mediziner und Apotheker überproportional häufig selbst zu Süchtigen wurden – was naheliegt, da sie am leichtesten Zugang zu den Substanzen hatten[15][66]. Manche Kliniken verzeichneten Fälle von Pflegern oder jungen Ärzten, die kokain- oder morphinabhängig waren. Diese intern bekannten „Berufsrisiken“ des Umgangs mit Suchtmitteln führten später zur Einrichtung strenger Apothekenkontrollen und Lagerbuchführungen (etwa das BTM-Buch), um Diebstahl und Missbrauch im Gesundheitswesen einzudämmen.

Opium im klassischen Sinne (Rohopium, Opiumtinktur) war in der Weimarer Medizin eher von geringer Bedeutung, da Morphin, Heroin und andere Alkaloide stärker und dosierbarer wirkten. Dennoch wurden traditionelle Opiumpräparate wie Laudanum (Opium in Alkohol gelöst) oder Pantopon (Opiumalkaloid-Gemisch) gelegentlich verordnet, z.B. als Beruhigungs- oder Schlafmittel. Opium konnte auch als Hausmittel auftauchen – vor 1929 war Opium in manchen freiverkäuflichen Mixturen enthalten, etwa in bestimmten Magen-Darm-Tropfen oder Beruhigungstees. Solche frei verkäuflichen Drogenpräparate – oft als „geheime Rezepturen“ verkauft – wurden ab 1929 ebenfalls unterbunden oder zumindest reglementiert.

Cannabis spielte in der Schulmedizin der 1920er praktisch keine Rolle mehr. Im 19. Jahrhundert war Cannabis Indica in Europa phasenweise als Schmerz- und Narkosemittel getestet worden, hatte sich aber gegenüber Morphin und Chloralhydrat nicht durchgesetzt. In der Weimarer Ära könnte Cannabis allenfalls in der Alternativmedizin oder Volksheilkunde mal eine Verwendung gefunden haben (z.B. Hanf als Bestandteil von Salben oder Tinkturen). Als ärztlich verschriebenes Medikament ist es für diese Zeit kaum dokumentiert. Umso erstaunlicher, dass es 1929 ohne Widerstände mit verboten wurde – offenbar war die medizinische Lobby für Cannabis sehr gering.

Suchtbehandlung und psychiatrische Sicht: Mit der Zunahme der Suchtfälle entstand auch der Bedarf nach Behandlungsmöglichkeiten. In den 1920er Jahren gab es Entzugsanstalten und psychiatrische Kliniken, die sich der „Entwöhnung“ von Morphinisten und Kokainisten annahmen. Allerdings steckte die Suchttherapie noch in den Kinderschuhen. Meist wurden Entzüge durch radikales Absetzen und körperliche Ausleitung versucht, teils unter Ersatzgabe von milderen Mitteln (z.B. Barbituraten oder Bromiden zur Beruhigung). Der Entzug fand oft in psychiatrischen Heilanstalten statt, da man Suchtkranke als eine Art Geisteskranke betrachtete, die man – falls nötig – auch zwangsweise dort halten könne. In der Tat forderten manche Ärzte rigide Maßnahmen: So plädierte z.B. der Psychiater Karl John 1924 dafür, Morphin- und Kokainabhängige per Gesetz zwangsweise einzuweisen und sogar zu entmündigen[67][68]. Ihm ging es weniger um das Wohl des Einzelnen als um die „Erstarkung des Volkskörpers“ nach dem Krieg – Sucht sei auszumerzen, weil sie die Leistungsfähigkeit der Nation untergrabe[69][70]. Solche Stimmen fanden allerdings (noch) keinen direkten Niederschlag im Gesetz; eine allgemeine Zwangseinweisung gab es nicht in Weimar. Doch in Einzelfällen konnten Süchtige mit richterlicher Anordnung in Anstalten gebracht werden, wenn sie z.B. straffällig wurden oder als gemeingefährlich galten.

Die Fachärzte debattierten in den 20ern intensiv, ob Sucht eine Krankheit ist oder Ausdruck moralischer Schwäche. Viele Psychiater stuften den Zustand nach längerem Konsum durchaus als Krankheit ein – Paul Wolff etwa schrieb, im fortgeschrittenen Stadium handle es sich um ein Krankheitsbild[23]. Gleichzeitig verwendeten dieselben Ärzte abwertende Begriffe wie „Degenerierte“ für die Süchtigen[71]. Wolff selbst verkörperte diese Ambivalenz: Einerseits hielt er die Willenshemmung der Kokainisten für krankhaft bedingt, andererseits nannte er Rauschgiftsüchtige „meist Degenerierte“ – relativierte aber: „Es gibt genug wertvolle Persönlichkeiten unter ihnen“, man solle sie also nicht pauschal verurteilen[23][71]. Dieses Spannungsfeld zwischen medizinischem Modell (Sucht als Krankheitsbild, das behandelt werden muss) und moralischem Modell (Sucht als Laster willensschwacher Individuen) prägte die ärztliche Diskussion der Weimarer Jahre – und hat sich, wie Wolff anmerkte, bis heute nicht völlig gelegt[72].

Abschließend ist festzuhalten, dass die Medizin in der Weimarer Republik eine doppelte Rolle im Drogenkontext spielte: Einerseits war sie selbst Quelle von Drogenkonsum (durch Verschreibungen, durch das Personal mit Zugang), andererseits war sie die Instanz, die das Problem zu diagnostizieren und zu lösen suchte. Die Ärzte jener Zeit leisteten Pionierarbeit in der Suchtforschung – sie beschrieben erstmals ausführlich die Symptome des Kokainismus und Morphinismus, führten statistische Erhebungen in Kliniken durch und entwickelten erste Therapiekonzepte. Doch oft waren ihre Aussagen auch von persönlichen oder ideologischen Einstellungen gefärbt, wie im nächsten Kapitel über moralische Debatten deutlich wird.

Gesellschaftliche Akzeptanz und moralische Debatten

Die 1920er Jahre erlebten in Deutschland eine intensive öffentliche Debatte über Drogen, Rausch und Sucht, die von moralischen Werturteilen und gesellschaftlichen Ängsten geprägt war. Gesellschaftliche Akzeptanz genossen dabei im Grunde nur die traditionellen Rauschmittel Alkohol und Nikotin – beides war fest in Kultur und Alltag verankert, trotz sporadischer Kritik aus Abstinenzlerkreisen. Illegalisierte Drogen wie Kokain, Morphium/Heroin oder Etherschnüffeln dagegen galten als Laster, das zumeist mit Dekadenz, Kriminalität oder fremden Einflüssen in Verbindung gebracht wurde. Die Weimarer Öffentlichkeit schwankte zwischen Faszination und Empörung: Während manche Künstler und Intellektuelle den Drogenkonsum als Teil eines rebellischen, modernen Lebensgefühls romantisierten, verurteilten breite Kreise – von bürgerlichen Sittenwächtern bis zu sozialistischen Sozialreformern – den Missbrauch als Gefahr für die Moral und Gesundheit der Nation.

Moralpanik vs. Realität: Wie bereits angedeutet, entstand ein gewisser Mythos vom drogenseligen „Tanz auf dem Vulkan“. Romane, Filme und Zeitungsberichte der 20er stilisierten Berlin gerne als Sündenbabel voller Koksnasen und Morphiumspritzen[73][74]. Tatsächlich war diese Darstellung überzogen (der tatsächliche Konsum war eher ein Randphänomen, siehe Statistiken im nächsten Kapitel), doch sie prägte das zeitgenössische Bewusstsein. Viele Bürger, die selbst nie mit Drogen in Berührung kamen, hielten Drogenkonsum für weit verbreitet. Diese Diskrepanz speiste sich aus reißerischen Medienberichten und warnenden Expertenstimmen. So warnten Mediziner in Vorträgen und Artikeln unablässig vor der drohenden „Verseuchung“ durch Rauschgift[75][76]. Begriffe wie „Giftseuche“, „Kokainwelle“ oder „Volksseuche Kokainismus“ machten die Runde[75][77]. Die Ärzteschaft zeichnete zum Teil drastische Szenarien: Schon 1920 behauptete ein Arzt nach der Behandlung von nur vier Kokainpatienten, „in Groß-Berlin blüht im Verborgenen eine schreckliche Volksseuche, der Kokainismus“[78][79]. Solche Warnungen wurden von der Presse begierig aufgegriffen und verbreitet. 1923 schrieb etwa der Psychiater Fritz Fränkel, die Zahl der Kokainisten sei „seit Beendigung des Krieges in erschreckender Weise gestiegen“[80] – ohne statistische Belege. Diese Art der Rhetorik trug Züge einer moralischen Panik: Man nahm vereinzelte Fälle und multiplizierte sie zum gesamtgesellschaftlichen Notstand. In der Vorstellung vieler Kommentatoren passte das Bild vom rauschgiftsüchtigen Großstadtsünder ideal in das Narrativ vom sittenverfallenen Weimar. Konservative Kreise sahen darin einen Beleg für das Versagen der Demokratie und die Entwurzelung nach 1918; linke Kreise wiederum deuteten Drogenelend als Symptom der kapitalistischen Krisenzeit, das nur durch Sozialreformen behoben werden könne (vgl. der Vorwärts-Artikel, der den „Sieg des gesellschaftlichen Sozialismus“ als einzig wahren Arzt gegen die Sucht benennt[81][82]).

Deviantes Milieu und Stigmatisierung: Drogenkonsum wurde in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem Randgruppen zugeschrieben – man sprach von der Bohème, der Halbwelt, Prostituierten, „Zuhältern und Verbrechern“. Bereits vor dem Weltkrieg existierte im bürgerlichen Feuilleton das Klischee vom pariserischen Laster, vom Kokain als Import aus Montmartre und dem Quartier Latin, der sich dann nach London, New York, Wien und Berlin „embolisch“ verbreitet habe[83][84]. Drogen galten demnach als etwas Fremdes, von außen Kommendes – durchaus vergleichbar mit zeitgenössischen rassistischen Untertönen, wenn z.B. vor „asiatischem Opium“ oder „Negerdrogen“ gewarnt wurde. Die Vorstellung, Drogenkonsum gehöre in dunkle Ausländerviertel oder Rotlichtbezirke, war verbreitet. So meinte etwa der russische Arzt G. Aronowitsch 1925, erst die deutsche Besatzung und illegale Drogeneinfuhr im Weltkrieg hätten die Kokainsucht nach Russland gebracht[85][57]. In Deutschland selbst wurde Kokain vor allem mit dem Berliner Nachtleben, speziell auch der homosexuellen Szene, in Verbindung gebracht. Einige Psychiater behaupteten, chronischer Kokainkonsum begünstige deviante Sexualpraktiken – einschließlich Homosexualität[86][87]. Der Berliner Arzt Norbert Marx publizierte 1923 sogar Fallstudien, in denen zuvor heterosexuelle Patienten unter Kokain eine Libidoumkehr zur Homosexualität erfahren hätten[88][89]. Diese steile These führte zu heftigen Kontroversen: Kollegen wie Fränkel widersprachen, Homosexualität sei konstitutionell und nicht durch eine Droge „erzeugbar“ – höchstens träfen Kokain und Homo-Milieu zufällig zusammen, weil „in allen Lokalen mit homoerotischem Publikum geschnupft wird“[90][91]. Dennoch hielt sich lange die Assoziation von Rauschgift und Lasterhaftigkeit in einem umfassenden Sinne – wer Drogen nahm, dem traute man auch andere Normverstöße zu, sei es promiskuitives Sexualverhalten, Kriminalität oder geistige Dekadenz. So konstruierte der Mediziner Walter Wolf 1925 einen „Volltypus“ des Süchtigen, in dem er weibische Weichheit, Alkoholismus und latente Homosexualität zu einer degenerativen Persönlichkeitsbeschreibung vermengte[92][93]. Solche Stigmatisierungen erschwerten natürlich die gesellschaftliche Akzeptanz von Suchtkranken als behandlungswürdige Patienten. Vielmehr haftete ihnen das Odium des Sittenverfalls an.

Öffentliche Diskussion und Prävention: In der Weimarer Gesellschaft prallten in der Drogenfrage unterschiedliche Interessen aufeinander. Reformorientierte Ärzte und Sozialpolitiker forderten Aufklärung und staatliche Maßnahmen. So wurde beispielsweise bereits 1919 im Reichsgesundheitsamt das Thema Drogenbekämpfung aufgegriffen. In Publikationen und Vorträgen – etwa im Deutschen Verein für Psychiatrie – informierte man über Suchtgefahren. 1928 initiierte der erwähnte Paul Wolff, Schriftleiter der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, eine umfangreiche Umfrage unter Kliniken und Ärzten, um Daten über Suchtkranke zu sammeln[94][95]. Diese Umfrage zeigte eher Entwarnung (ein „Abebben“ des Kokainismus)[95], doch in der öffentlichen Wahrnehmung wurden die Ergebnisse teilweise verzerrt dargestellt: So behauptete ein Beamter des Reichsgesundheitsamts vor dem Reichstagsausschuss fälschlich, Wolffs Erhebung belege eine „außerordentliche Zunahme“ von Morphin- und Kokainverbrauch[96]. Hier zeigt sich, wie Fakten dem jeweiligen Lagerdenken angepasst wurden. Für konservative Moralhüter und viele Politiker stand fest, dass man hart durchgreifen müsse. Die Verabschiedung des Opiumgesetzes 1929 geschah denn auch in einer Atmosphäre parteiübergreifender Sorge um die Volksgesundheit. In den Debatten wurden Drogenabhängige teils mit Alkoholikern in einem Atemzug genannt, teils aber als gefährlicher angesehen, da Kokain & Co. „den Charakter zersetzen und zur sittlichen Verkommenheit führen“ – so der Tenor mancher Redebeiträge. Interessanterweise waren nicht nur rechte Kreise alarmiert: Auch linke Intellektuelle wie Kurt Tucholsky kommentierten kritisch das Rauschgiftelend der Zeit. Tucholsky schrieb 1929 in der „Weltbühne“ sinngemäß, Drogen seien das Symptom einer kranken Gesellschaft, die ihre Mitglieder verzweifeln lasse. Diese Sicht – Sucht als gesellschaftlich verursacht – stand dem bürgerlich-konservativen Narrativ (Sucht als persönliches Laster) entgegen.

Akzeptanz im Alltag: Für die normale Bevölkerung waren illegale Drogen ein fernes Phänomen. Die meisten Bürger der Weimarer Republik dürften nie mit Kokain oder Morphium in Kontakt gekommen sein, außer vielleicht über Zeitungsskandale oder Erzählungen. Der Konsum wurde also keineswegs toleriert, sondern man betrachtete ihn mit einer Mischung aus Sensationslust und moralischer Ablehnung. Selbst Partygänger, die sich in Berlin amüsierten, waren nicht automatisch Kokainschnüffler – viele werden dem Rauschgift ausgewichen sein, auch aus Angst vor Abhängigkeit. Allerdings gab es sicherlich Kreise, wo ein gewisses Augenzwinkern herrschte: In Kabaretts und Künstlerclubs machten sich Nummern über Morphinisten lustig oder karikierte man den Koksnasensound. So tauchten im Repertoire mancher Comedians Anspielungen auf („Haben Sie mal 'nen Spritz?“ etc.). Solche humoristischen Verarbeitungen zeigen, dass das Thema gesellschaftlich präsent war, auch wenn es die meisten nur als Zuschauer betraf.

Zusammenfassend herrschte in der Weimarer Gesellschaft keine breite Akzeptanz für harte Drogen – im Gegenteil, die Toleranzschwelle war sehr gering. Wer als süchtig bekannt wurde, riskierte soziale Ächtung, es sei denn, er bewegte sich in den wenigen bohemienhaft toleranten Zirkeln. Die dominierenden moralischen Diskurse stellten den Drogengebrauch als Verfallssymptom dar. Dabei spiegelten sich in der Debatte oft tiefere Konflikte: Alt versus Neu, Ordnung versus Freiheit, Nationale Kräftigung versus individuelle Entgrenzung. In der Drogenfrage kulminierte vieles, was die Weimarer Gesellschaft umtrieb – von der Verarbeitung des Krieges über die Angst vor Modernität bis hin zum Kampf zwischen liberaler Lebensführung und autoritären Wertvorstellungen.

Internationale Einflüsse und koloniale Drogenströme

Die Drogenproblematik der 1920er Jahre in Deutschland lässt sich nicht losgelöst vom internationalen Kontext betrachten. Weltweit waren nach dem Ersten Weltkrieg Anstrengungen im Gange, den Handel mit Rauschgiften zu kontrollieren. Die Weimarer Republik war sowohl durch vertragliche Verpflichtungen als auch durch faktische Handelsströme in diese Prozesse eingebunden.

Völkerbund und internationale Drogenpolitik: Deutschland trat 1926 dem Völkerbund bei und engagierte sich fortan auch in dessen Advisory Committee on Traffic in Opium and Other Dangerous Drugs. Bereits vorher, wie erwähnt, hatte man aufgrund des Versailler Vertrags die Haager Opiumkonvention von 1912 ratifizieren müssen[43]. In den 1920ern folgten weitere internationale Abkommen: Etwa das Genfer Opiumabkommen von 1925 und ein Folgeabkommen 1931, die schärfere Maßnahmen gegen Opium, Morphium, Kokain und Cannabis vorsahen[42][44]. Deutschland unterzeichnete diese Verträge und setzte sie mit Verzögerung durch das Opiumgesetz 1929 um. Dieser Druck von außen war ein wesentlicher Faktor, warum gerade 1929 die nationale Gesetzgebung zustande kam – um den Anforderungen des Völkerbunds zu genügen. Vertreter Deutschlands, darunter Beamte des Reichsgesundheitsamts, nahmen an internationalen Konferenzen in Genf teil, wo man sich über Importquoten, pharmazeutische Produktion und Grenzkontrollen austauschte. Interessanterweise hatte das Deutsche Reich vor 1914 selbst zu den Vorreitern strenger Opiumgesetze gezählt (auf der Shanghai-Konferenz 1909 unterstützte es die US-Chinesische Linie für Prohibition[42]). Nach dem Krieg geriet man zunächst ins Hintertreffen, holte aber dann auf. Der internationale Einfluss zeigte sich auch in der Verwaltung: Die Einrichtung der zentralen Opiumstelle in Berlin folgte dem Vorbild anderer Länder, die staatliche Stellen zur Regulierung geschaffen hatten (z.B. das Bureau of Narcotics in den USA). Auch war die Kooperation der Polizeibehörden grenzüberschreitend: So arbeitete die Berliner Kriminalpolizei bei großen Schmuggelfällen mit den Behörden in den Niederlanden, in der Tschechoslowakei oder in Frankreich zusammen, um Drogenringe aufzudecken. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Weimarer Republik Teil einer globalen Drogenkontrollregime-Entstehung war, die unter Ägide des Völkerbunds erstmals weltweit Standards setzte.

Koloniale und globale Handelsströme: Obwohl Deutschland nach 1919 keine Kolonien mehr besaß, wirkten sich koloniale Drogenströme dennoch aus. Vor dem Ersten Weltkrieg war Deutschland u.a. ein bedeutender Heroin- und Morphin-Exporteur (Firmen wie Merck, Bayer, Boehringer produzierten tonnenweise Morphin, das z.B. in China oder Persien Absatz fand). Mit dem Verlust der Kolonien und durch alliierte Restriktionen wurde diese Rolle eingeschränkt, aber der technologische Wissensvorsprung blieb: Deutsche Chemiker waren führend in der Synthese neuer Drogen. So wurde 1927 in Deutschland das Eukodal (Oxycodon) auf den Markt gebracht – ein starkes Opioid, das rasch weltweit exportiert wurde. Auch das erwähnte Procain (Novocain) als Kokainersatz kam aus deutscher Entwicklung. Diese pharmazeutischen Produkte flossen legal oder illegal über Grenzen.

Andererseits gelangten illegale Drogen nach Deutschland: Beispielsweise Opium aus dem „Goldenen Halbmond“ (Persien, Türkei) und aus Indien fand via Schmuggel den Weg nach Europa. Es existierten international operierende Schmuggelnetze, oft mit Wurzeln in den ehemaligen Kolonialherrenstrukturen – etwa indische Opiumbauern, die britischen Firmen Rohopium lieferten, wovon Teile abgezweigt wurden und über Häfen wie Hamburg oder Marseille auf den Schwarzmarkt kamen. Auch das chinesische Opium, das in Ostasien ein großes Problem darstellte, warf seinen Schatten auf Europa: chinesische Communities in westlichen Städten betrieben manchmal Opiumhöhlen. In Berlin gab es ein kleines Chinesenviertel im Bezirk Scheunenviertel, wo um 1925 eine Opiumhöhle ausgehoben wurde – dieser „exotische“ Fall machte Schlagzeilen, untermauerte aber auch Vorurteile, Drogen kämen von Ausländern. Ebenso war Cannabis/Haschisch aus kolonialen Gebieten (Nordafrika, Naher Osten) in Paris und anderen Metropolen verfügbar; in Deutschland tauchte es wohl vereinzelt bei französischen Besatzungssoldaten oder Orientreisenden auf.

Ein besonderes Kapitel ist Kokain: Vor dem Krieg stammte praktisch das gesamte Kokain auf dem Weltmarkt aus Java (Niederländisch-Indien) oder aus deutschen Labors (Merck). Nach 1918 übernahmen die Niederlande die Führung – Amsterdam wurde ein Drehscheibe für Kokainschmuggel in den 20ern. Viel vom in Berlin verkauften Kokain kam mutmaßlich über die Niederlande und Belgien ins Land, teils als angebliches „Industrieprodukt“ deklariert. Zeitgenössische Ermittlungen sprachen von „Niederländerkoks“, der in hoher Reinheit auf dem Schwarzmarkt kursierte. Daneben gab es immer noch Altbestände: Die Reichswehr beispielsweise hatte 1920 noch Kokainvorräte aus dem Krieg, die dann unters Volk gerieten. Auch einige ehemalige Kolonialbeamte sollen nach Versailles versucht haben, Chinin- und Kokainbestände aus den Kolonien auf eigene Rechnung zu verkaufen – es gibt Berichte, wonach 1920 Koffer voller Kokain auf dem Schwarzmarkt auftauchten, deren Herkunft unklar war (vielleicht aus Ostafrika stammend).

Kultureller Austausch: Internationale Einflüsse zeigten sich nicht nur im Drogenhandel, sondern auch kulturell. Die Vorstellung vom kokainschneidenden amerikanischen Gangster oder der pariser Apachentänzerin mit der Morphiumspritze kursierte in Büchern und Filmen. So schuf z.B. der italienische Autor Pitigrilli (Dino Segre) 1921 den Roman „Kokain“ (in Deutschland 1927 erschienen), der in Paris und Turin spielt und das frivole Leben auf Droge schildert. Solche Werke beeinflussten wiederum das hiesige Bild. Auch die Jazzmusik, die aus den USA herüberschwappte, war mit dem Ruf verbunden, Drogenkonsum (etwa Morphium und Marihuana in Musiker-Kreisen) zu fördern – ein Klischee, das sich in konservativen Kreisen festsetzte. Die deutsche Polizei beobachtete mit Argwohn z.B. schwarze US-Musiker, die in Berliner Revuen spielten, und verdächtigte sie pauschal, Drogen zu verbreiten (obgleich dafür kaum Belege existierten). In diesem Sinne spielten latente rassistische und fremdenfeindliche Untertöne in der Drogenangst mit: Das „fremdländische Rauschgift“ bedroht die „rein deutsche“ Volksgesundheit – so ließe sich eine unausgesprochene Befürchtung zusammenfassen, die die Nazis später explizit formulierten.

Umgekehrt war die deutsche Situation auch Thema im Ausland: Britische und amerikanische Zeitungen berichteten fasziniert vom „cocaine scourge in Berlin“. Es existierte fast ein Schadensstolz der Weimarer Metropole, als wilde Hauptstadt Europas zu gelten. 1924 wurde in den USA der Drogenfahnder Captain L. Zimmermann aus New York nach Berlin geschickt, um dort mit der Polizei Methoden der Rauschgiftbekämpfung auszutauschen – ein Beispiel früher internationaler Kooperation. Zimmermann zeigte sich beeindruckt vom Ausmaß des Berliner Nachtlebens, relativierte aber, dass New York ähnliche Probleme kenne. So entstand das Bewusstsein, dass Drogen keine rein nationale Angelegenheit sind, sondern ein transnationales Phänomen, das auch nur grenzüberschreitend bekämpft werden könne.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Weimarer Republik Teil einer globalen Drogenwelt war: Politisch durch die Einbindung in völkerrechtliche Abkommen, praktisch durch legale und illegale Handelswege, kulturell durch einen länderübergreifenden Austausch von Narrativen und Erfahrungen. Die koloniale Vergangenheit und internationale Verkehrswege beeinflussten direkt, welche Drogen in Deutschland verfügbar waren. Diese Verflechtungen führten dazu, dass etwaige nationale Lösungen immer wieder an externe Faktoren stießen – eine Erkenntnis, die bis heute Gültigkeit hat.

Statistiken, medizinische Berichte und zeitgenössische Quellen

Zur objektiven Einschätzung des Drogenproblems in den 1920er Jahren ist ein Blick auf verfügbare Statistiken und zeitgenössische Berichte unerlässlich. Überraschenderweise war die Datengrundlage damals dünn, was Extrapolationen begünstigte. Dennoch liegen einige Zahlen vor, die einen Eindruck vom tatsächlichen Ausmaß vermitteln.

Krankenhaus- und Anstaltsstatistiken: Eine wichtige Quelle waren die Aufnahmestatistiken psychiatrischer und Nervenkliniken. Der Psychiater Hans W. Maier veröffentlichte 1926 eine umfangreiche Monographie über Kokainismus und führte darin u.a. Daten der Berliner Universitätskliniken an[97][98]. Demnach war der Anteil der Kokainisten unter den stationär aufgenommenen Patienten 1913 sehr gering: nur rund 1,75 Promille (0,175 %)[98][99]. Bis 1920 stieg dieser Anteil auf 7,5 ‰ (0,75 %) und 1921 auf 10 ‰ (1,0 %)[100]. Nach einem kleinen Rückgang erreichte er 1924 einen vorläufigen Höchststand von 13 ‰, also 1,3 %[100][101]. Tabelle 1 fasst diese Entwicklung zusammen:

Jahr

Anteil der Morphinisten/Kokainisten an Klinikaufnahmen (Berlin)

1913

0,175 % (1,75 ‰)[98]

1920

0,75 % (7,5 ‰)[100]

1921

1,0 % (10 ‰)[100]

1924

1,3 % (13 ‰)[101]

Maier selbst bemerkte zu diesen Zahlen, dass sie keinerlei Anzeichen einer seuchenartigen Ausbreitung boten – trotz des relativen Anstiegs blieben die absoluten Werte sehr klein[102][103]. Doch viele seiner Kollegen ignorierten diese Relativierung. Maier notierte lediglich trocken: „Das Ansteigen in den letzten Jahren ist deutlich ersichtlich.“[104], ohne das geringe Niveau zu betonen.

Karl Bonhoeffer, ein führender Berliner Psychiater, präsentierte 1925 ebenfalls Daten. Seine Grundlage waren die Statistiken des Preußischen Statistischen Landesamts über „Morphinismus und andere narkotische Vergiftungen“. Bonhoeffer ergänzte sie durch Anfragen an private Heilanstalten. Sein Befund: „Die absoluten Zahlen sind überall noch klein.“[105][106]. Allerdings habe sich die Zahl der Kokainkonsumenten in drei großen Berliner Privatkliniken nach dem Krieg verzehnfacht gegenüber 1913–18 – nämlich von 0,06 % der Aufnahmen auf 0,7 %[107][108]. Absolut war das immer noch weniger als 1%, doch Bonhoeffer sah darin einen Trend. Er vermerkte auch, dass 1925 bereits wieder ein Rückgang der Neuaufnahmen von Kokainisten zu beobachten sei[109]. Dennoch schloss er ohne größere Bedenken, die „Kokainismuswelle“ sei im Abklingen begriffen, aber insgesamt gebe es „eine deutliche Zunahme des Narkotinismus, der unsere Aufmerksamkeit erfordert“[110]. Er fügte hinzu, es bestehe keine akute Gefahr einer „Verseuchung unseres Volkes“ – ein Satz, der allerdings von vielen überlesen wurde[111]. In der Folge zitierten etliche Autoren Bonhoeffers Vortrag als Beleg für einen Anstieg des Drogenkonsums[111], obwohl seine Zahlen diesen nur sehr begrenzt hergaben.

Erst um 1928 wurden systematischere Untersuchungen durchgeführt, wie bereits erwähnt: Paul Wolff verschickte Fragebögen an alle deutschen Landesheilanstalten, Privatkliniken und an suchtbehandelnde Ärzte[94]. Das Echo zeigte vielerorts geringe Fallzahlen – „nur sehr geringes Material an Kokainisten“ meldeten vor allem die Provinz- und Landesanstalten[95]. Wolff interpretierte dies als generelles Abebben des Kokainismus bis Ende der 20er[112]. Allerdings passte dieses Ergebnis nicht allen. In einer Reichstagsanhörung 1928 wurde Wolffs Umfrage verzerrt dargestellt: Eugen Rost vom Reichsgesundheitsamt behauptete dort, die Umfrage habe eine „außerordentliche Zunahme an Verbrauch von Morphin und Kokain“ ergeben[96] – offenbar um die Dringlichkeit strenger Gesetze zu unterstreichen. Den Abgeordneten wurden bei jener Sitzung auch Sterbestatistiken vorgelegt: In ganz Deutschland waren 1923 genau 32 Personen, 1924 18 Personen und 1925 39 Personen „infolge von Morphinismus und anderen narkotischen Vergiftungen“ verstorben[113]. Diese Zahlen sind bemerkenswert niedrig und hätten eigentlich jegliche Epidemierhetorik entkräften müssen[114]. In der Tat kommentierte die taz 2019 süffisant: „Auch diese Zahlen gaben keinen Anlass, die Existenz einer Seuche zu vermuten.“[115]. Gleichwohl zeigten sie, wie aufmerksam man das Thema verfolgte – jeder Todesfall wurde registriert. Zum Vergleich: An Alkohol starben jährlich Tausende (direkt oder indirekt), was in keiner Relation stand.

Polizeiliche Statistiken sind schwerer zu fassen, da sie oft nicht veröffentlicht wurden. Intern führte die Kriminalpolizei Berlin Aufzeichnungen über Drogendelikte. Bekannt ist, dass unmittelbar nach Inkrafttreten des Opiumgesetzes (1930) in Berlin mehrere hundert Personen unter Beobachtung standen, die als „Rauschgifthändler“ galten. Einige Dutzend wurden in den folgenden Monaten verhaftet. Die Zahl der angezeigten Verstöße gegen das Opiumgesetz stieg 1930 sprunghaft an – was aber eher der neuen Rechtslage geschuldet war (jede illegale Pille war nun eine Straftat). Genaue Zahlen aus den 20ern wurden später selten publiziert, um keine Nachahmer zu animieren.

Zeitungsquellen aus der Zeit geben uns dafür ein lebendiges qualitatives Bild. Wir haben bereits den „Vorwärts“-Artikel von 1924 betrachtet, der die Unterschicht-Drogenszene schildert[30][32]. Weitere aufschlussreiche Berichte lieferten z.B. die konservative „Kreuz-Zeitung“ oder das Boulevardsblatt „BZ am Mittag“, die in reißerischem Ton „Kokain-Razzien“ und „Morphium-Morde“ präsentierten. Ein prominenter Kriminalfall war der der Rosemarie Gentschow, in der Presse oft „Morphiumspritzen-Mörderin“ genannt[116][117]. Rose Gentschow war eine morphinabhängige junge Frau, die – von ihrem Zuhälter angestiftet – Freier betäubte und beraubte. 1924 starb dabei ein Mann an einer Überdosis, was vor Gericht kam. Die Presse schilderte Rose als bedauernswerte „Verlorene der Stadt“, die „durch das Morphium der schmerzenden Seele“ längst lebendig tot gewesen sei[117]. Sogar der Schriftsteller Joseph Roth verarbeitete diesen Fall in einem Feuilleton (Prager Tagblatt), in dem er Mitleid mit der „bedauernswerten Kreatur“ ausdrückte[118]. Solche Berichte zeigten einerseits das Mitleid mit den Suchtopfern, andererseits stilisierten sie die Drogenwelt als düster-kriminelles Milieu. Ebenfalls in der Presse vielfach thematisiert war der Fall der Anita Berber – ihr Zusammenbruch und Tod 1928 wurde in allen großen Blättern als Warnung vor dem „Gift des Lasters“ dargestellt. Interessant ist, dass einige Autoren die Verantwortung für solche Schicksale der Gesellschaft gaben: So schrieb ein Kommentator, Berber sei „ein Produkt unserer Zeit – gepriesen, benutzt und fallen gelassen“.

In der Fachpresse (medizinisch, juristisch) wurden die Berichte sachlicher. Ärzte wie Fritz Fränkel veröffentlichten in psychiatrischen Archiven detaillierte Beobachtungen ihrer Suchtpatienten, inkl. psychischer und physischer Symptome. So dokumentierte man z.B. Wahnvorstellungen bei Kokainisten: Verfolgungswahn, taktile Halluzinationen („Kokainwanzen“ am Körper) etc. Die „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ brachte regelmäßig Artikel zur „Rauschgiftnot“. Darin finden sich auch Vorschläge: etwa öffentliche Aufklärungskampagnen, Jugendschutz, strengere Apothekenkontrollen, aber auch Forderungen nach speziellen Suchtkliniken. Letztere wurden ansatzweise realisiert – etwa die Städtische Irrenanstalt Berlin-Herzberge richtete um 1927 eine Abteilung für Rauschgifterkrankte ein.

Statistische Kuriosität: In der Bevölkerung fanden Umfragen zu Drogen kaum statt. Eine Ausnahme war eine 1927 vom Institut für Konjunkturforschung durchgeführte Erhebung, in der Berliner Haushalte u.a. nach Luxusausgaben befragt wurden. Dort gaben 0,1% der Befragten an, regelmäßig Geld für „Heil- und Rauschmittel (außer Alkohol)“ auszugeben – was indirekt auf die geringe Verbreitung verweist.

Zusammenfassend bestätigen die quantitativen Daten: Harte Drogen waren in den 1920ern ein Randphänomen. Die absolute Zahl Abhängiger war klein (in den großen Städten ein paar Hundert bis wenige Tausend, landesweit vielleicht einige Tausend). Zum Vergleich: Alkoholiker gab es Millionen, was damals aber eher als soziales denn als kriminelles Problem gesehen wurde. Die riesige Aufmerksamkeit, die den Drogen in Medien und Politik zuteil wurde, stand in einem auffälligen Missverhältnis zur tatsächlichen Verbreitung[1][119]. Dies bedeutet keineswegs, dass die individuellen Schicksale weniger tragisch waren – doch es erklärt, warum viele Historiker heute von einem Kokain-Mythos der Weimarer Zeit sprechen, der mehr über die Ängste und Projektionen dieser Gesellschaft aussagt als über die Realität. Die zeitgenössischen Quellen – ob Statistik oder Reportage – müssen also immer vor diesem Hintergrund gelesen werden.

Auswirkungen auf Kultur, Literatur und Kunst der Weimarer Republik

Die facettenreiche Präsenz von Drogen in der Weimarer Republik spiegelte sich auch in der Kultur jener Jahre wider. Literatur, Kunst, Theater und Film griffen das Thema Drogenkonsum und Rausch nicht nur auf, sondern wurden teils direkt davon beeinflusst. Die Wechselwirkung war dabei doppelt: Einerseits dienten Drogen als Motiv und Sujet in zahlreichen Werken, andererseits lebten einige Kulturschaffende selbst in engem Kontakt mit Rauschmitteln, was ihre Kreativität wie ihr Leben prägte.

Literatur und Presse: Bereits unmittelbar nach dem Krieg erschienen erste literarische Werke, die Drogen thematisierten. 1919 schockierte der Stummfilm „Morphium“ das Publikum – ein früher filmischer Versuch, die Faszination und Gefahr des Rausches darzustellen[120]. In den folgenden Jahren kam es fast zu einer Modewelle des „Morphium“-Themas in der Unterhaltungskultur: „Theaterstücke, Tänze, Pantomime, Sketche, Kurzgeschichten, Romane – auf einmal war alles Morphium“, konstatiert ein zeitgenössischer Beobachter[121][120]. Tatsächlich trug die neue Medienfreiheit der Republik dazu bei, bislang tabuisierte Stoffe nun offen zu behandeln. Ein Beispiel ist der Roman „Sylvia’s Liebesleben – Tragödie einer Morphinistin“ (1925) vom Schriftsteller Edmund Edel, erschienen im Kurt Ehrlich Verlag, der auf „anrüchige Literatur“ spezialisiert war[122]. Das Buch schilderte genüsslich-schaurige Szenen einer dem Morphium verfallenen Frau und verkaufte sich gut – bis die Zensur einschritt und es schließlich verboten wurde[123]. Solche Publikationen befriedigten das voyeuristische Interesse des Publikums an der verbotenen Welt der Drogen.

Auch renommierte Autoren bauten Drogenerfahrungen in ihre Werke ein. Alfred Döblin, selbst Arzt, ließ in seinem Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) zwar primär die Themen Verbrechen, Sexualität und Sozialelend anklingen, doch auch das Drogenmotiv taucht am Rande auf – etwa in Gestalt von zwielichtigen Gestalten, die „Pulver“ dealen, und in der generellen Atmosphäre der Halbwelt um den Alexanderplatz, die wie im Vorwärts-Artikel von 1924 stark vom Kokain geprägt war. Hans Fallada, ein weiterer berühmter Autor, kannte Drogenerfahrungen aus eigenem Erleben: Schon in jungen Jahren war er morphiumsüchtig (nach einem Selbstmordversuch als Teenager erhielt er Morphin), und auch später kämpfte er mit Suchtproblemen. Seine Romane der 30er wie „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ oder „Der Trinker“ (postum veröffentlicht) reflektieren indirekt die Abhängigkeitserfahrung – letzteres Werk handelt zwar von Alkohol, lässt sich aber als allgemeine Suchtparabel lesen. In den 20er Jahren selbst schrieb Fallada etwa Kurzgeschichten, in denen drogenähnliche Motive vorkommen (z.B. in „Der junge Goedeschal“ kokst ein Reporter, um leistungsfähig zu bleiben).

Die Journalisten jener Zeit – viele literarisch ambitioniert – stilisierten die Drogenszene oft zu feuilletonistischen Highlights. Leo Heller haben wir erwähnt, der in „Berliner Razzien“ (1929) reportagehaft-real und doch mit spitzer Feder die Polizeieinsätze gegen Drogenhöhlen beschrieb[124][55]. Egon Erwin Kisch, der „rasende Reporter“, schilderte 1924 in einer Prager Zeitung einen Besuch in einer Berliner Kokainkneipe voller Stricher und Freudenmädchen, was damals für Empörung sorgte. Kurt Tucholsky alias Peter Panter schrieb satirische Glossen, etwa über den Unterschied zwischen einem Zigarren rauchenden Reichstagsabgeordneten (akzeptiert) und einem kokainschnupfenden Bohemien (geächtet), um die Doppelmoral aufzuzeigen.

Bühne und Tanz: Auch auf der Bühne fand die Thematik Niederschlag. So wurden etwa Revueszenen mit dem Titel „Die Kokain-Spritze“ oder ähnliches in Kabaretts aufgeführt – meist humoristisch-abschreckend. Die bekannte Tänzerin Anita Berber ist hier abermals zu nennen: Sie choreographierte einen Solo-Tanz namens „Kokain“, in dem sie ekstatisch den Rausch und die Verzweiflung darstellte, angeblich unter echtem Drogeneinfluss tanzend. Ihr Ehemann Sebastian Droste schrieb Texte zur Untermalung, etwa das Gedicht „Morphium“. Berber erschien auf der Bühne oft mit glasigem Blick – ihr Habitus selbst wurde zur Performance der Dekadenz. Das Publikum der zwanziger Jahre war fasziniert von dieser ästhetisierten Selbstzerstörung; zahlreiche Künstler widmeten Berber Werke: Otto Dix malte 1925 ihr berühmtes Porträt im roten Kleid (siehe Bildzitat in der WELT)[125][126], in dem sie als ausgemergelte, verruchte Ikone verewigt ist. Der Maler Christian Schad portraitierte ähnlich die Halbwelt: Sein Gemälde „Sonja“ (1928) zeigt eine stadtbekannte Kokain-Dealerin mit Narbe im Gesicht und einer morbid-düsteren Aura. Der Expressionist George Grosz karikierte in Zeichnungen Drogen und Prostitution, etwa eine Szene mit einem Morphinisten und einer kokainsüchtigen Prostituierten in einer Dachkammer.

Film: Der Film der Weimarer Zeit griff Drogen gerne als dramatisches Element auf. Neben dem erwähnten „Morphium“ (1919, Regie Bruno Ziener) gab es Filme wie „Die Geliebte des Mörders“ (1921) mit einer morphiumsüchtigen Femme fatale, oder Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“ (1922), wo der Superschurke Mabuse Drogen im großen Stil einsetzt, um andere zu willfährigen Werkzeugen zu machen. In Mabuse taucht auch eine Kokainszene in einem Nachtclub auf – eine der ersten filmischen Darstellungen. Georg Wilhelm Pabst drehte 1929 den Film „Geheimnisse einer Seele“, der zwar primär Psychoanalyse behandelt, aber in Traumsequenzen Bilder von giftigen Schlangen und Spritzen zeigt, Symbolik für versteckte Ängste (hier wird die Droge als Metapher des Unbewussten genutzt). Interessant ist auch der Film „Abwege“ (1928) von G.W. Pabst, in dem die Hauptfigur, eine gelangweilte Gesellschaftsdame, in einen Strudel aus Partys und Drogen gerät – die Dekadenz der späten 20er wird hier eindringlich geschildert, inkl. Trance-Tanzszenen, die Drogenrausch suggerieren.

Musik: In der populären Musik jener Zeit finden sich weniger explizite Drogenlieder (anders als in den USA, wo Jazzstücke wie „Reefer Man“ über Cannabis in den 30ern populär wurden). In Deutschland gab es Schlager, die verklausuliert das Rauschtrinken oder allgemeine Rauschzustände besangen. Allerdings griff die avantgardistische Liedkunst das Thema auf – z.B. vertonte der Komponist Mischa Spoliansky 1928 im Kabarett der Komiker ein Lied „Das lila Lied“ (über Verbotenes, u.a. Homosexualität, aber anspielungsreich auch Rauschgift). Friedrich Hollaender, ein wichtiger Chansonnier, schrieb für die Diseuse Trude Hesterberg ein Stück „Die Morphinistin“, in dem diese mit brüchiger Stimme das Elend einer Abhängigen klagt. Diese Darbietungen waren Teil einer subversiven Kabarettkultur, die bestehende Tabus aufs Korn nahm.

Fazit zu Kultur: Die vielfältigen kulturellen Echos des Drogenkonsums zeigen, dass das Thema im Weimarer Deutschland allgegenwärtig im Gespräch war – selbst wenn es real nur Minderheiten betraf, war es symbolisch hoch aufgeladen. Drogen standen metaphorisch für die Exzesse und Krisen der Moderne, für die Zerrissenheit zwischen Rausch und Ernüchterung, zwischen Befreiung und Absturz. Künstler sahen im Drogenrausch manchmal eine Tür zu neuen Erfahrungen (etwa Vergleich zu Romantikern des 19. Jh., die mit Opium experimentierten, wie De Quincey oder Baudelaire). Allerdings dominierte in der Weimarer Kunst eher der kritische, schonungslose Blick: Man zeigte die Hässlichkeit des Rauschgifts ohne Verklärung. Kirszenbaums Karikaturen, Dix’ expressionistische Fratzen, die harten Schnitte in den Filmen – all das vermittelte letztlich eine Warnung oder zumindest eine analytische Distanz.

So verwundert es nicht, dass das Weimarer Drogenbild bis heute in Filmen und Büchern nachwirkt: Die Vorstellung vom kokainschnupfenden Charleston-Tänzer und der spritzenlegenden Diseuse prägt unser Bild der Roaring Twenties. Doch diese Bilder wurden damals bewusst geschaffen – in einer Gesellschaft, die versuchte, sich ihrer eigenen Extreme bewusst zu werden. Die Kultur der Weimarer Republik hat das Drogenmotiv genutzt, um über Freiheit und Dekadenz, über Leid und Rausch zu reflektieren.

Fazit

Die Untersuchung des Drogenkonsums im Deutschland der 1920er Jahre zeigt ein komplexes Bild, das zwischen Mythos und Realität oszilliert. In der öffentlichen Wahrnehmung – damals wie in der späteren Erinnerung – galten die Goldenen Zwanziger als eine Art Rausch-Ära, in der Kokain und Morphium zum Symbol eines exzessiven Lebensstils wurden. Tatsächlich aber blieb der missbräuchliche Konsum harter Drogen ein Randphänomen, quantitativ gering und konzentriert auf bestimmte Milieus (Großstadtbohème, medizinische Kreise, soziales Elend)[1][104]. Alkohol war nach wie vor die weitaus verbreitetste Droge und zugleich kulturell akzeptiert, während Kokain & Co. mit starken Tabus belegt waren.

Dennoch entfaltete das Thema Drogen eine enorme gesellschaftliche Resonanz. Die Weimarer Republik suchte im Umgang mit Drogen nach Orientierung und reagierte mit neuen Gesetzen – kulminierend im Opiumgesetz 1929, das erstmals einen umfassenden staatlichen Kontrollrahmen schuf[47]. Polizei und Justiz mussten Neuland betreten, um illegale Netzwerke zu bekämpfen, stießen aber auf Schwierigkeiten angesichts transnationaler Schmuggelwege und Korruption im Kleinen. Mediziner wiederum definierten die Konzepte von „Kokainismus“ und „Morphinismus“ wissenschaftlich aus – oft mit pathologisierenden und moralisierenden Untertönen, die Süchtige als degeneriert stigmatisierten[127][71], aber auch mit einem beginnenden Verständnis für Sucht als Krankheit, die behandelt werden müsse[23].

International war die Weimarer Drogenpolitik eng verflochten mit den Bemühungen des Völkerbunds, was zeigt: Schon früh erkannte man, dass Drogen ein globales Problem darstellten, das nationale Grenzen überschreitet. Koloniale Hinterlassenschaften (Opiumproduktion in Asien, Kokain aus Übersee) wirkten in die deutsche Situation hinein, und Deutschland wurde Teil der entstehenden internationalen Kontrollregime[43][44].

Die Statistiken und zeitgenössischen Quellen, soweit vorhanden, bestätigen: Eine drohende „Volksseuche“ existierte eher in den Schlagzeilen als auf der Straße[1][75]. Doch die große Aufmerksamkeit, die Presse, Politik und Kunst dem Drogenkonsum widmeten, verweist darauf, dass Drogen ein Chiffre für die Verunsicherungen der Zeit waren. In ihnen bündelten sich Ängste vor moralischem Verfall, vor den Nachwirkungen des Krieges, vor Modernität und Verlust der Kontrolle.

Die kulturelle Verarbeitung – von Romanen über Gemälde bis zum Kabarett – machte Drogen zu einem Symbol des Zeitgeists. Die dekadente Tänzerin mit der Kokainschachtel, der verelendete Junkie im Heilsarmeequartier, der gehetzte Morphin-Arzt – sie alle bevölkern das imaginaire der Weimarer Republik und machen deutlich: Rauschmittel waren mehr als Konsumgüter, sie waren Projektionsflächen. Die Weimarer Kultur nutzte das Motiv, um humanistische Fragen zu stellen: Wie weit darf individuelles Luststreben gehen? Ist Rausch Befreiung oder Flucht? Was schuldet die Gesellschaft den Schwächsten, die ins Gift fliehen? Diese Fragen wurden damals kontrovers diskutiert und bleiben bis heute relevant.

Abschließend lässt sich feststellen, dass die Weimarer Republik in Sachen Drogenkonsum Widersprüche offenbarte: Fortschrittliche Ansätze (Behandlung, gesetzliche Regelung, internationale Kooperation) standen neben alten Denkmustern (Moralisierung, Kriminalisierung). Die Epoche legte aber den Grundstein für das moderne Verständnis von Sucht und für die institutionellen Rahmen, in denen wir bis heute Drogenpolitik gestalten. In der Rückschau erscheinen die 1920er gleichermaßen als Warnung vor Überzeichnungen – denn der Mythos vom kollektiven Rausch entpuppte sich als übertrieben – wie auch als Lehrstück, dass gesellschaftliche Umbrüche immer begleitet sein können von Flucht in Rausch und von intensiven Debatten darüber. Die Bachelor-Arbeit hat gezeigt, dass nur ein interdisziplinärer, vielschichtiger Zugriff diesem Thema gerecht wird: Historische, rechtliche, medizinische und kulturelle Perspektiven ergeben zusammen das Bild einer faszinierenden, turbulenten Dekade, in der der Umgang mit Drogen eine kleine, aber aufschlussreiche Facette bildete.

Quellenangaben

  1. Olaf Guercke (2017): „Kokainabhängigkeit und soziales Elend – Nachrichten von der dunklen Seite der wilden Zwanziger“. Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung, 04.12.2017. – Zitiert wird u.a. aus einem Vorwärts-Artikel vom 31.08.1924 zur Berliner Drogenszene[30][32].
  2. Hannes Walter (2017): „‚Volksseuche‘ oder Randerscheinung? Die ‚Kokainwelle‘ in der Weimarer Republik aus medizinhistorischer Sicht“. In: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 25(3), S. 311–348. – Zusammenfassung und Auszüge der Argumentation zur tatsächlichen Verbreitung von Kokain und Morphin[1][128].
  3. Bettina Müller (2019): „90 Jahre Opiumgesetz: Der Rausch der Zwanziger“. In: taz – die tageszeitung, 24.11.2019[46][47]. – Populärwissenschaftlicher Artikel mit historischen Beispielen (Adolf Sommerfelds Romanzitat[129], Leo Hellers Razzien[124], Fall Rose Gentschow[116], usw.).
  4. Philip Cassier (2020): „Goldene Zwanziger: Die Weimarer Republik voll auf Koks“. In: Welt.de, Geschichte-Artikel, 2020[9][25]. – Enthält historische Abrisse (Kokain im Weltkrieg[10], Schwarzmarkt durch Ex-Militärs[12]), Zitate aus Joël/Fränkel 1924[25][24], Darstellung Anita Berbers[18], Codewörter und Preise[24], Einschätzung Paul Wolff[23], Gesetz 1930[61].
  5. Wikipedia (de) Artikel „Opiumgesetz“ (Stand 2021)[13][45]. – Informationen zur Gesetzeshistorie (Haager Abkommen, Ausführungsgesetz 1920, Inhalt des Gesetzes 1929).
  6. Ausstellungskatalog „Devil Alcohol“ der vhs Weimar (2021)[4][6]. – Hintergrund zu Alkoholkonsum und Anti-Alkohol-Bewegung (Rückgang Alkoholkonsum, Reichshauptstelle 1921, Gaststättengesetz 1930).
  7. Zeitgenössische medizinische Literatur: Ernst Joël & Fritz Fränkel (1924), „Der Cocainismus“ – zitiert in Quelle 4 (Welt.de)[25][26]. Karl Bonhoeffer (1925), Vortrag im Verein f. Psychiatrie – zitiert nach Hannes Walter (Quelle 2)[130][131]. Hans W. Maier (1926), Monographie „Kokainismus“ – statistische Angaben zitiert nach Walter[98][100]. Paul Wolff (1928), Umfrage – zitiert nach Walter[112][96].
  8. Weitere Primärquellen: Reichsgesetzblatt 1929 I, S.215 (Opiumgesetz, §1) – zusammengefasst in Quelle 5[13]. Bundesarchiv Bild 102-07741 (Foto „Koks Emil“, Berlin 1929) – herangezogen als Bildquelle[40].

(Alle in Klammern angegebenen Ziffernverweisen auf die zitierten Stellen in den verknüpften Quellen.)


[1] [2] [3] [15] [65] [66] [86] [119] [127] [128] „Volksseuche“ oder Randerscheinung? | NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin

https://link.springer.com/article/10.1007/s00048-017-0174-7

[4] [5] [6] [7] Devil Alcohol – JECHESKIEL DAVID KIRSZENBAUM

https://kirszenbaum.vhs-weimar.de/en/devil-alcohol/

[8] [38] [39] [46] [47] [48] [52] [53] [54] [55] [116] [117] [118] [120] [121] [122] [123] [124] [129] 90 Jahre Opiumgesetz: Der Rausch der Zwanziger | taz.de

https://taz.de/90-Jahre-Opiumgesetz/!5639355/

[9] [10] [11] [12] [16] [17] [18] [19] [20] [21] [22] [23] [24] [25] [26] [27] [36] [37] [61] [62] [71] [72] [125] [126] Goldene Zwanziger: Die Weimarer Republik voll auf Koks - WELT

https://www.welt.de/geschichte/article210374219/Goldene-Zwanziger-Die-Weimarer-Republik-voll-auf-Koks.html

[13] [14] [42] [43] [44] [45] [49] Opiumgesetz – Wikipedia

https://de.wikipedia.org/wiki/Opiumgesetz

[28] [29] [30] [31] [32] [33] [34] [35] [81] [82] Kokainabhängigkeit und soziales Elend – Nachrichten von der dunklen Seite der wilden Zwanziger

https://www.fes.de/feshistory/blog/kokainabhaengigkeit-und-soziales-elend-nachrichten-von-der-dunklen-seite-der-wilden-zwanziger-1

[40] [41] File:Bundesarchiv Bild 102-07741, Berlin, "Koks Emil" der Kokain-Verkäufer.jpg - Wikimedia Commons

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5480042

[50] [PDF] Fundsiellennachweis B - Bundesgesetzblatt

https://www.recht.bund.de/shareddocs/downloads/de/fundstellennachweise/fnb/FNB_1974.pdf?__blob=publicationFile&v=1

[51] Cannabis hilft gegen meine Rückenschmerzen! - Grünhorn Gruppe

https://www.gruenhorn.group/de/cannabis-hilft-gegen-meine-rueckenschmerzen/

[56] [57] [67] [68] [69] [70] [73] [74] [75] [76] [77] [78] [79] [80] [83] [84] [85] [87] [88] [89] [90] [91] [92] [93] [94] [95] [96] [97] [98] [99] [100] [101] [102] [103] [104] [105] [106] [107] [108] [109] [110] [111] [112] [113] [114] [115] [130] [131] (PDF) "Epidemic" or Peripheral Phenomenon? : A Medical History of the "Cocaine Wave" in the Weimar Republic

https://www.researchgate.net/publication/318571048_Epidemic_or_Peripheral_Phenomenon_A_Medical_History_of_the_Cocaine_Wave_in_the_Weimar_Republic

[58] Bundesopiumstelle - BfArM

https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/_node.html

[59] Bundesopiumstelle - BfArM

https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/_artikel.html

[60] Drogen in der Weimarer Republik | Geschichtsforum.de

https://www.geschichtsforum.de/thema/drogen-in-der-weimarer-republik.21544/

[63] [64] [PDF] Rauschmittel im Nationalsozialismus. Die gesetzliche ... - DuEPublico

https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00030288/04_Haverkamp_Rauschmittel.pdf

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