Donnerstag, 16. Oktober 2025

Neue Raumtemperatur-Technik revolutioniert die Proteinforschung

Gegen Antibiotika-Resistenzen: Röntgenkristallographie bei Raumtemperatur beschleunigt die Wirkstoffforschung

Forscher am Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) bei DESY haben eine neue Röntgenkristallographie-Technik bei Raumtemperatur entwickelt, die die strukturbasierte Arzneimittelentwicklung deutlich beschleunigen könnte[1]. Anstatt Proteine in tiefgekühlten Kristallen zu untersuchen, ermöglicht diese Methode Einblicke in Proteine unter Bedingungen, die näher an ihren natürlichen, physiologischen Zuständen liegen[2]. Eine in Nature Communications veröffentlichte Studie belegt, dass der neue Ansatz strukturelle Daten in vergleichbarer Qualität zu herkömmlichen Kryo-Experimenten liefert und zugleich bisher unbekannte Variationen in der 3D-Proteinstruktur (Konformationen) aufdecken kann[3]. Tatsächlich entdeckte das Team bei Raumtemperatur eine zuvor nie beobachtete Konformation eines Enzyms, das Antibiotika-Resistenzen verursacht – ein Befund, der neue Ansatzpunkte für die Entwicklung von Medikamenten zur Verhinderung solcher Resistenzen eröffnet[4].



Hintergrund: Kryo versus Raumtemperatur in der Proteinstrukturanalyse

Die makromolekulare Röntgenkristallographie ist ein zentraler Eckpfeiler der Wirkstoffforschung. Mit ihr lassen sich Wechselwirkungen zwischen Proteinen und Wirkstoffen in atomarer Auflösung sichtbar machen[5]. Traditionell werden Protein-Kristalle dafür bei kryogenen Temperaturen (ca. –170 °C) vermessen, um Strahlenschäden an der Probe zu verringern und ein Austrocknen des Kristalls zu verhindern[6]. Dieser Gefrierprozess hat jedoch Nachteile: Das Einfrieren kann die Proteinstruktur verfälschen und wichtige dynamische Zustände überdecken, die für die biologische Funktion und die Wirksamkeit von Arzneimitteln entscheidend sind[7]. Mit anderen Worten, man bekommt bei Kryo-Experimenten oft nur einen statischen Schnappschuss, der die natürliche Flexibilität des Proteins nicht vollständig repräsentiert.

Um diese Einschränkungen zu überwinden, hat das DESY-Team die serielle Kristallographie bei Raumtemperatur erforscht[8]. Bei Raumtemperatur (hier ca. 23 °C) bleiben Proteine in einem realistischeren, dem Lebendigen näheren Zustand[9]. Dadurch können experimentelle Daten gewonnen werden, die näher an den tatsächlichen Vorgängen in Zellen liegen, ohne die artefaktbildenden Einflüsse der Tiefkühlung. So lassen sich potenziell funktionell relevante Proteinzustände beobachten, die bei Kryo-Methoden verborgen bleiben würden.

Die neue Methode: Hochdurchsatz-Röntgenscreening mit HiPhaX

Die Forscher entwickelten hierfür ein spezielles Instrument namens HiPhaX (High-throughput Pharmaceutical X-ray screening), das an der Röntgenquelle PETRA III von DESY eingesetzt wird[10][11]. Mit HiPhaX wurden systematisch zwei Versuchsreihen verglichen: Ein Fragment-Screening bei ca. 23 °C (nahe physiologischer Temperatur) und herkömmliche Messungen desselben Proteins bei –170 °C[12]. Als Modell diente ein Enzym aus dem Bakterium Klebsiella pneumoniae, das für Fosfomycin-Antibiotikaresistenz verantwortlich ist[13]. Beim Fragment-Screening testet man nicht direkt komplexe Wirkstoffmoleküle, sondern kleinere Molekülfragmente – quasi Einzelteile potenzieller Wirkstoffe – um rasch grundlegende Bindungsstellen am Protein aufzuspüren[14].

HiPhaX ist dabei gezielt auf hohen Durchsatz bei Raumtemperatur ausgelegt. Das Instrument ermöglicht eine schnelle, automatisierte Datenerfassung aus Tausenden von Mikrokristallen unter präziser Kontrolle von Temperatur und Luftfeuchtigkeit[11]. Besondere Probenhalter mit zwölf Fächern und integrierter Automatisierung erlauben es, eine große Anzahl möglicher Protein-Ligand-Kombinationen effizient zu screenen – bei minimalem manuellem Aufwand und sehr geringem Probenverbrauch[15]. Die wichtigsten Merkmale des HiPhaX-Instruments auf einen Blick:

·         Schnelle Datenerfassung: Automatisierte Messung tausender Mikrokristalle in kurzer Zeit[11].

·         Kontrollierte Umgebung: Präzise Regulierung von Temperatur (~23 °C) und Luftfeuchtigkeit, um nahezu physiologische Bedingungen zu simulieren[16].

·         Mehrfach-Probenhalter: Spezielle Halter mit 12 Fächern ermöglichen parallele Tests vieler Proben in einem Durchgang[15].

·         Hoher Durchsatz bei wenig Material: Vollautomatisiertes Screening hunderter bis tausender Substanzen mit minimalem Personaleinsatz und geringem Probenmaterial[17].

Durch diese Technologie können die Wissenschaftler in kurzer Zeit umfangreiche Fragment-Screenings durchführen. Das ist besonders wertvoll für die frühe Phase der Wirkstoffentwicklung: Man kann zügig herausfinden, welche chemischen Fragmente an ein Zielprotein binden, und daraus weitere Optimierungen ableiten[14]. Im direkten Vergleich zeigte sich, dass die bei Raumtemperatur gesammelten Strukturdaten eine ähnlich hohe Auflösung wie die traditionellen Kryo-Daten erreichen[18] – trotz potenziell höherer Strahlenschäden ohne Kühlung.

Entdeckung einer verborgenen Proteinkonformation

Ein zentraler Erfolg des neuen Ansatzes war die Aufdeckung einer bisher unbekannten Proteinkonformation. Mit der Raumtemperatur-Methode fand das Team eine neue Faltung im aktiven Zentrum des Enzyms, die vermutlich dessen Wechselwirkung mit Antibiotika und möglichen Hemmstoffen beeinflusst[19]. Diese spezielle Konformationsänderung war in allen früheren, bei Kryo-Temperaturen erhobenen Strukturdaten nicht sichtbar und fehlte sogar in den Vorhersagen von AlphaFold 3, dem neuesten KI-gestützten Werkzeug zur Proteinstrukturvorhersage[20]. Die entdeckte Konformation im aktiven Zentrum von FosA – dem Fosfomycin-Resistenzprotein A – bietet somit zusätzliche Angriffspunkte für das Wirkstoffdesign, die mit herkömmlichen Methoden unentdeckt geblieben wären[13][21].

Diese Entdeckung unterstreicht eindrucksvoll, welchen Mehrwert experimentelle Strukturdaten bei physiologischen Temperaturen haben können. Durch Messungen unter nahezu lebensechten Bedingungen lassen sich funktional relevante Zustände von Proteinen erfassen, die computergestützte Modelle übersehen könnten[21]. Mit anderen Worten: Die Kombination aus neuem Experiment und modernster KI zeigt bereits jetzt, wie sie sich gegenseitig ergänzen können. Was die Software (AlphaFold) nicht vorhersieht, kann durch reale Messungen aufgedeckt werden – und umgekehrt können solche empirischen Befunde genutzt werden, KI-Modelle weiter zu verbessern[22].

Bedeutung für die Wirkstoffentwicklung

Die neue Raumtemperatur-Kristallographie mit HiPhaX markiert einen großen Fortschritt in der Strukturbiologie[22]. Sie vereint Geschwindigkeit, Präzision und Flexibilität in der Strukturbestimmung – Eigenschaften, die für die beschleunigte Wirkstoffsuche essenziell sind. Insbesondere im Kampf gegen Antibiotika-Resistenzen eröffnet diese Methodik neue Chancen: Da nun auch verborgene Konformationen pathogenetisch relevanter Proteine entdeckt werden, können Forscher gezielt neue Wirkstoffkandidaten entwickeln, die genau diese Strukturbesonderheiten ausnutzen[23][4].

Wichtige Vorteile des neuen Ansatzes für die Arzneimittelforschung sind:

·         Realistischere Proteinstrukturen: Proteine werden bei nahezu physiologischer Temperatur beobachtet, was artefaktfreie Einblicke in ihre nativen Zustände ermöglicht[9][21]. Dynamische Bewegungen und Konformationen bleiben erhalten, was für das Verstehen der Funktion und das Design von Wirkstoffen entscheidend ist.

·         Aufdeckung neuer Angriffspunkte: Die Methode kann zusätzliche Bindetaschen oder Konformationen aufspüren, die in eingefrorenen Strukturen verborgen bleiben[20]. Solche neu entdeckten Strukturen – wie im Fall des Fosfomycin-resistenten Enzyms – eröffnen innovative Wege, um Medikamente gegen resistente Keime zu entwickeln[23][4].

·         Synergie mit künstlicher Intelligenz: Die Tatsache, dass selbst modernste KI-Modelle (z. B. AlphaFold) bestimmte Konformationen nicht vorhersagen, zeigt den Wert experimenteller Daten[22]. Gleichzeitig bieten die bei Raumtemperatur gewonnenen Daten eine hochwertige Trainingsgrundlage, um zukünftige KI-Vorhersagen genauer und biologisch relevanter zu machen[24].

·         Beschleunigter Wirkstoff-Findungsprozess: Durch das hochautomatisierte High-Throughput-Screening können in kürzester Zeit sehr viele Substanzen getestet werden. In Kombination mit KI-gestützter Datenanalyse wird es möglich, Tausende von Verbindungen pro Tag zu untersuchen[25]. Dies verkürzt den Weg vom molekularen Fund zur klinischen Anwendung erheblich[26].

Insgesamt kann diese Technik die strukturbasierte Wirkstoffentwicklung effizienter gestalten. Sie eignet sich besonders, um rasch Breitband-Screenings durchzuführen – etwa gegen multiresistente Bakterien. Indem neue Schwachstellen in Zielproteinen identifiziert werden, lassen sich rational neue Wirkstoffe entwerfen, die solche Schwachstellen adressieren und so Resistenzen überwinden könnten.

Ausblick

Die Arbeitsgruppe geht davon aus, dass das Fragment-Screening bei Raumtemperatur dank solcher Ergebnisse bald Standard im Wirkstoffdesign werden könnte[27]. Mit immer besserer Automatisierung und KI-Unterstützung dürfte dieser Ansatz die frühe Phase der Arzneimittelentwicklung revolutionieren. Bereits heute zeichnet sich ab, dass umfassendere Screening-Kampagnen einen schnelleren Übergang von der Grundlagenforschung zur Medikamentenentwicklung ermöglichen[28].

Ein Blick in die nahe Zukunft verstärkt diesen Optimismus: Bei DESY ist mit PETRA IV eine neue Synchrotron-Röntgenquelle in Planung – der Nachfolger von PETRA III. PETRA IV wird Röntgenstrahlen von beispielloser Brillanz erzeugen und damit ultraschnelle, vollautomatische Strukturscreenings erlauben[29]. Durch diese nächste Generation von Infrastruktur werden Hochdurchsatz-Experimente noch effizienter, was die Wirkstoffforschung weiter beschleunigen wird[30]. "Umfangreichere Probenscreenings eröffnen neue Wege von der Grundlagenforschung zur Medikamentenentwicklung," betont Britta Redlich, DESY-Direktorin für Forschung mit Photonen[28]. Dank nahezu kompletter Automatisierung und KI-Integration können diese Prozesse künftig noch schneller und effizienter ablaufen[31].

Zusammenfassend zeichnet sich ein Wandel in der strukturbasierten Arzneimittelforschung ab: Realistischere experimentelle Bedingungen gepaart mit High-Throughput-Technologien und KI-Methoden ermöglichen es, Proteinstrukturen und Wirkstoffkandidaten so schnell und detailgenau zu analysieren wie nie zuvor. Dies dürfte insbesondere im Kampf gegen zuvor unbesiegbare Probleme wie Antibiotika-Resistenzen einen entscheidenden Unterschied machen – indem es Forschern die Mittel an die Hand gibt, der Natur einen Schritt voraus zu sein.

Quellen: Die Informationen stammen aus einer Pressemeldung des DESY vom 14.10.2025[1][23] sowie der Originalpublikation in Nature Communications[13].


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https://www.desy.de/aktuelles/news_suche/index_ger.html?openDirectAnchor=3983&two_columns=0

[13] [18] Room-temperature X-ray fragment screening with serial crystallography | Nature Communications

https://www.nature.com/articles/s41467-025-64918-6?error=cookies_not_supported&code=2a543d72-726b-4d69-9ec4-4612f025fee5

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