Gegen
Antibiotika-Resistenzen: Röntgenkristallographie bei Raumtemperatur
beschleunigt die Wirkstoffforschung
Forscher
am Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) bei DESY haben eine neue Röntgenkristallographie-Technik
bei Raumtemperatur entwickelt, die die strukturbasierte
Arzneimittelentwicklung deutlich beschleunigen könnte[1].
Anstatt Proteine in tiefgekühlten Kristallen zu untersuchen, ermöglicht diese
Methode Einblicke in Proteine unter Bedingungen, die näher an ihren
natürlichen, physiologischen Zuständen liegen[2].
Eine in Nature Communications veröffentlichte Studie belegt, dass der
neue Ansatz strukturelle Daten in vergleichbarer Qualität zu
herkömmlichen Kryo-Experimenten liefert und zugleich bisher unbekannte Variationen
in der 3D-Proteinstruktur (Konformationen) aufdecken kann[3].
Tatsächlich entdeckte das Team bei Raumtemperatur eine zuvor nie beobachtete
Konformation eines Enzyms, das Antibiotika-Resistenzen verursacht – ein
Befund, der neue Ansatzpunkte für die Entwicklung von Medikamenten zur
Verhinderung solcher Resistenzen eröffnet[4].
Hintergrund: Kryo
versus Raumtemperatur in der Proteinstrukturanalyse
Die
makromolekulare Röntgenkristallographie ist ein zentraler Eckpfeiler der
Wirkstoffforschung. Mit ihr lassen sich Wechselwirkungen zwischen Proteinen und
Wirkstoffen in atomarer Auflösung sichtbar machen[5].
Traditionell werden Protein-Kristalle dafür bei kryogenen Temperaturen (ca.
–170 °C) vermessen, um Strahlenschäden an der Probe zu verringern und ein
Austrocknen des Kristalls zu verhindern[6].
Dieser Gefrierprozess hat jedoch Nachteile: Das Einfrieren kann die Proteinstruktur
verfälschen und wichtige dynamische Zustände überdecken, die für die
biologische Funktion und die Wirksamkeit von Arzneimitteln entscheidend sind[7].
Mit anderen Worten, man bekommt bei Kryo-Experimenten oft nur einen statischen
Schnappschuss, der die natürliche Flexibilität des Proteins nicht vollständig
repräsentiert.
Um diese Einschränkungen zu überwinden, hat das DESY-Team die serielle
Kristallographie bei Raumtemperatur erforscht[8].
Bei Raumtemperatur (hier ca. 23 °C) bleiben Proteine in einem realistischeren,
dem Lebendigen näheren Zustand[9].
Dadurch können experimentelle Daten gewonnen werden, die näher an den
tatsächlichen Vorgängen in Zellen liegen, ohne die artefaktbildenden Einflüsse
der Tiefkühlung. So lassen sich potenziell funktionell relevante
Proteinzustände beobachten, die bei Kryo-Methoden verborgen bleiben würden.
Die neue Methode:
Hochdurchsatz-Röntgenscreening mit HiPhaX
Die
Forscher entwickelten hierfür ein spezielles Instrument namens HiPhaX (High-throughput
Pharmaceutical X-ray screening), das an der Röntgenquelle PETRA III
von DESY eingesetzt wird[10][11].
Mit HiPhaX wurden systematisch zwei Versuchsreihen verglichen: Ein Fragment-Screening
bei ca. 23 °C (nahe physiologischer Temperatur) und herkömmliche Messungen
desselben Proteins bei –170 °C[12].
Als Modell diente ein Enzym aus dem Bakterium Klebsiella pneumoniae, das
für Fosfomycin-Antibiotikaresistenz verantwortlich ist[13].
Beim Fragment-Screening testet man nicht direkt komplexe Wirkstoffmoleküle,
sondern kleinere Molekülfragmente – quasi Einzelteile potenzieller
Wirkstoffe – um rasch grundlegende Bindungsstellen am Protein aufzuspüren[14].
HiPhaX ist dabei gezielt auf hohen
Durchsatz bei Raumtemperatur ausgelegt. Das Instrument ermöglicht eine
schnelle, automatisierte Datenerfassung aus Tausenden von Mikrokristallen
unter präziser Kontrolle von Temperatur und Luftfeuchtigkeit[11].
Besondere Probenhalter mit zwölf Fächern und integrierter
Automatisierung erlauben es, eine große Anzahl möglicher
Protein-Ligand-Kombinationen effizient zu screenen – bei minimalem manuellem
Aufwand und sehr geringem Probenverbrauch[15].
Die wichtigsten Merkmale des HiPhaX-Instruments auf einen Blick:
·
Schnelle
Datenerfassung: Automatisierte Messung tausender
Mikrokristalle in kurzer Zeit[11].
·
Kontrollierte
Umgebung: Präzise Regulierung von Temperatur (~23 °C)
und Luftfeuchtigkeit, um nahezu physiologische Bedingungen zu simulieren[16].
·
Mehrfach-Probenhalter: Spezielle Halter mit 12 Fächern ermöglichen parallele Tests vieler
Proben in einem Durchgang[15].
·
Hoher
Durchsatz bei wenig Material: Vollautomatisiertes
Screening hunderter bis tausender Substanzen mit minimalem Personaleinsatz und
geringem Probenmaterial[17].
Durch
diese Technologie können die Wissenschaftler in kurzer Zeit umfangreiche Fragment-Screenings
durchführen. Das ist besonders wertvoll für die frühe Phase der
Wirkstoffentwicklung: Man kann zügig herausfinden, welche chemischen Fragmente
an ein Zielprotein binden, und daraus weitere Optimierungen ableiten[14].
Im direkten Vergleich zeigte sich, dass die bei Raumtemperatur gesammelten
Strukturdaten eine ähnlich hohe Auflösung wie die traditionellen
Kryo-Daten erreichen[18] –
trotz potenziell höherer Strahlenschäden ohne Kühlung.
Entdeckung einer
verborgenen Proteinkonformation
Ein
zentraler Erfolg des neuen Ansatzes war die Aufdeckung einer bisher
unbekannten Proteinkonformation. Mit der Raumtemperatur-Methode fand das
Team eine neue Faltung im aktiven Zentrum des Enzyms, die vermutlich
dessen Wechselwirkung mit Antibiotika und möglichen Hemmstoffen beeinflusst[19].
Diese spezielle Konformationsänderung war in allen früheren, bei
Kryo-Temperaturen erhobenen Strukturdaten nicht sichtbar und fehlte
sogar in den Vorhersagen von AlphaFold 3, dem neuesten
KI-gestützten Werkzeug zur Proteinstrukturvorhersage[20].
Die entdeckte Konformation im aktiven Zentrum von FosA – dem
Fosfomycin-Resistenzprotein A – bietet somit zusätzliche Angriffspunkte für
das Wirkstoffdesign, die mit herkömmlichen Methoden unentdeckt geblieben
wären[13][21].
Diese Entdeckung unterstreicht eindrucksvoll, welchen Mehrwert
experimentelle Strukturdaten bei physiologischen Temperaturen haben
können. Durch Messungen unter nahezu lebensechten Bedingungen lassen sich funktional
relevante Zustände von Proteinen erfassen, die computergestützte Modelle
übersehen könnten[21].
Mit anderen Worten: Die Kombination aus neuem Experiment und modernster KI
zeigt bereits jetzt, wie sie sich gegenseitig ergänzen können. Was die Software
(AlphaFold) nicht vorhersieht, kann durch reale Messungen aufgedeckt werden –
und umgekehrt können solche empirischen Befunde genutzt werden, KI-Modelle
weiter zu verbessern[22].
Bedeutung für die
Wirkstoffentwicklung
Die
neue Raumtemperatur-Kristallographie mit HiPhaX markiert einen großen
Fortschritt in der Strukturbiologie[22]. Sie
vereint Geschwindigkeit, Präzision und Flexibilität in der
Strukturbestimmung – Eigenschaften, die für die beschleunigte Wirkstoffsuche
essenziell sind. Insbesondere im Kampf gegen Antibiotika-Resistenzen
eröffnet diese Methodik neue Chancen: Da nun auch verborgene Konformationen
pathogenetisch relevanter Proteine entdeckt werden, können Forscher gezielt neue
Wirkstoffkandidaten entwickeln, die genau diese Strukturbesonderheiten
ausnutzen[23][4].
Wichtige Vorteile des neuen Ansatzes für die Arzneimittelforschung
sind:
·
Realistischere
Proteinstrukturen: Proteine werden bei nahezu
physiologischer Temperatur beobachtet, was artefaktfreie Einblicke in ihre nativen
Zustände ermöglicht[9][21].
Dynamische Bewegungen und Konformationen bleiben erhalten, was für das
Verstehen der Funktion und das Design von Wirkstoffen entscheidend ist.
·
Aufdeckung
neuer Angriffspunkte: Die Methode kann zusätzliche
Bindetaschen oder Konformationen aufspüren, die in eingefrorenen Strukturen
verborgen bleiben[20].
Solche neu entdeckten Strukturen – wie im Fall des Fosfomycin-resistenten
Enzyms – eröffnen innovative Wege, um Medikamente gegen resistente Keime
zu entwickeln[23][4].
·
Synergie
mit künstlicher Intelligenz: Die Tatsache, dass selbst
modernste KI-Modelle (z. B. AlphaFold) bestimmte Konformationen nicht
vorhersagen, zeigt den Wert experimenteller Daten[22].
Gleichzeitig bieten die bei Raumtemperatur gewonnenen Daten eine hochwertige
Trainingsgrundlage, um zukünftige KI-Vorhersagen genauer und biologisch
relevanter zu machen[24].
·
Beschleunigter
Wirkstoff-Findungsprozess: Durch das hochautomatisierte
High-Throughput-Screening können in kürzester Zeit sehr viele Substanzen
getestet werden. In Kombination mit KI-gestützter Datenanalyse wird es möglich,
Tausende von Verbindungen pro Tag zu untersuchen[25].
Dies verkürzt den Weg vom molekularen Fund zur klinischen Anwendung erheblich[26].
Insgesamt
kann diese Technik die strukturbasierte Wirkstoffentwicklung effizienter
gestalten. Sie eignet sich besonders, um rasch Breitband-Screenings
durchzuführen – etwa gegen multiresistente Bakterien. Indem neue Schwachstellen
in Zielproteinen identifiziert werden, lassen sich rational neue Wirkstoffe
entwerfen, die solche Schwachstellen adressieren und so Resistenzen überwinden
könnten.
Ausblick
Die Arbeitsgruppe geht davon aus,
dass das Fragment-Screening bei Raumtemperatur dank solcher Ergebnisse
bald Standard im Wirkstoffdesign werden könnte[27]. Mit immer besserer
Automatisierung und KI-Unterstützung dürfte dieser Ansatz die frühe Phase der
Arzneimittelentwicklung revolutionieren. Bereits heute zeichnet sich ab, dass
umfassendere Screening-Kampagnen einen schnelleren Übergang von der Grundlagenforschung
zur Medikamentenentwicklung ermöglichen[28].
Ein Blick in die nahe Zukunft verstärkt diesen Optimismus: Bei DESY ist
mit PETRA IV eine neue Synchrotron-Röntgenquelle in Planung – der
Nachfolger von PETRA III. PETRA IV wird Röntgenstrahlen von
beispielloser Brillanz erzeugen und damit ultraschnelle,
vollautomatische Strukturscreenings erlauben[29]. Durch diese nächste Generation
von Infrastruktur werden Hochdurchsatz-Experimente noch effizienter, was die
Wirkstoffforschung weiter beschleunigen wird[30]. "Umfangreichere Probenscreenings
eröffnen neue Wege von der Grundlagenforschung zur
Medikamentenentwicklung," betont Britta Redlich, DESY-Direktorin für
Forschung mit Photonen[28]. Dank nahezu kompletter
Automatisierung und KI-Integration können diese Prozesse künftig noch
schneller und effizienter ablaufen[31].
Zusammenfassend zeichnet sich ein Wandel in der strukturbasierten
Arzneimittelforschung ab: Realistischere experimentelle Bedingungen
gepaart mit High-Throughput-Technologien und KI-Methoden ermöglichen es,
Proteinstrukturen und Wirkstoffkandidaten so schnell und detailgenau zu
analysieren wie nie zuvor. Dies dürfte insbesondere im Kampf gegen zuvor
unbesiegbare Probleme wie Antibiotika-Resistenzen einen entscheidenden Unterschied
machen – indem es Forschern die Mittel an die Hand gibt, der Natur einen
Schritt voraus zu sein.
Quellen: Die Informationen stammen aus einer
Pressemeldung des DESY vom 14.10.2025[1][23] sowie der Originalpublikation in Nature
Communications[13].
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DESY News: Gegen Antibiotika-Resistenzen: DESY-Wissenschaftler treiben die
Arzneimittelforschung mit Röntgenscreening bei Raumtemperatur voran - Deutsches
Elektronen-Synchrotron DESY
https://www.desy.de/aktuelles/news_suche/index_ger.html?openDirectAnchor=3983&two_columns=0
[13] [18]
Room-temperature X-ray fragment screening with serial crystallography | Nature
Communications
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